Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch] Ody dem man die Jlias gelesen hat. Es ist sehr offenbar,daß die große Ungleichheit zwischen beyden Gedichten in den verschiedenen Absichten des Dichters und nicht in dem Abnehmen seines Genies liegt. Die Odyssee sollte ihre eigene Natur, ihren eigenen Plan haben. Hier ist indessen dieselbe Mannigfaltigkeit der Charakter, eben die genaue Zeichnung derselben, nach der Verschiedenheit des Temperaments und der Neigung jeder Person. Alle Affekte und alle Grade derselben hat der Poet in seiner Gewalt. Hier ist überall dasselbe Leben und dieselbe Stärke der Aus- bildung. Jn den Beschreibungen, Bildern und Gleichnissen herrscht die Erfindungskraft beständig, und in dem Ausdruk leuchtet sie in dem hellesten Licht hervor. Niemals fehlet es dem Dichter an Bildern, oder Farben zu seiner Mahlerey. Alles, was er hat sagen wollen, hat er gewußt in eine einzige genau verknüpfte Handlung zusammen zu sezen, welche keiner Unterbrechung unterworfen ist, und wo die Gemüthsbewegungen der Personen zu ihrer vollen Höhe erhebt werden. Der Held dieser Epopöe ist ein Mann von ganz Während der langen und höchst mühesamen Fahrt Oef daß er längst umgekommen sey, oder gewiß nicht wie-der erscheinen werde, seine Gemahlin zu einer zwey- ten Heyrath zu zwingen, seinen einzigen Sohn aus dem Wege zu räumen, und sich seiner Herrschaft und seiner Güter zu bemächtigen suchen. Nachdem also der Held durch tausend Wiederwärtigkeiten end- lich in der armseligsten Gestalt in seinem Wohnsiz glüklich angekommen, entdeket die ihn nie verlas- sende Vorsichtigkeit neue Hindernisse sich den Seinigen zu erkennen zu geben, und die verwegene Rotte, die in seinem Hause schon lange den Meister gespielt hatte, herauszutreiben, sich und die Seinigen in Ruhe zu sezen. Da finden wir ihn aufs Neue so scharfsin- nig in Entdekung jeder Gefahr, als erfindrisch und bis zur Bewundrung geschmeidig, in Abwendung derselben, bis er endlich zur völligen Ruhe kommt. Bey Ausführung dieses Plans wußte der Dich- Wenn also die Jlias verlohren gegangen wäre, Oefnungen. (Baukunst.) Unter dieser allgemeinen Benennung begreifen wir Jn Ansehung der Menge der Oefnungen erfodert feste
[Spaltenumbruch] Ody dem man die Jlias geleſen hat. Es iſt ſehr offenbar,daß die große Ungleichheit zwiſchen beyden Gedichten in den verſchiedenen Abſichten des Dichters und nicht in dem Abnehmen ſeines Genies liegt. Die Odyſſee ſollte ihre eigene Natur, ihren eigenen Plan haben. Hier iſt indeſſen dieſelbe Mannigfaltigkeit der Charakter, eben die genaue Zeichnung derſelben, nach der Verſchiedenheit des Temperaments und der Neigung jeder Perſon. Alle Affekte und alle Grade derſelben hat der Poet in ſeiner Gewalt. Hier iſt uͤberall daſſelbe Leben und dieſelbe Staͤrke der Aus- bildung. Jn den Beſchreibungen, Bildern und Gleichniſſen herrſcht die Erfindungskraft beſtaͤndig, und in dem Ausdruk leuchtet ſie in dem helleſten Licht hervor. Niemals fehlet es dem Dichter an Bildern, oder Farben zu ſeiner Mahlerey. Alles, was er hat ſagen wollen, hat er gewußt in eine einzige genau verknuͤpfte Handlung zuſammen zu ſezen, welche keiner Unterbrechung unterworfen iſt, und wo die Gemuͤthsbewegungen der Perſonen zu ihrer vollen Hoͤhe erhebt werden. Der Held dieſer Epopoͤe iſt ein Mann von ganz Waͤhrend der langen und hoͤchſt muͤheſamen Fahrt Oef daß er laͤngſt umgekommen ſey, oder gewiß nicht wie-der erſcheinen werde, ſeine Gemahlin zu einer zwey- ten Heyrath zu zwingen, ſeinen einzigen Sohn aus dem Wege zu raͤumen, und ſich ſeiner Herrſchaft und ſeiner Guͤter zu bemaͤchtigen ſuchen. Nachdem alſo der Held durch tauſend Wiederwaͤrtigkeiten end- lich in der armſeligſten Geſtalt in ſeinem Wohnſiz gluͤklich angekommen, entdeket die ihn nie verlaſ- ſende Vorſichtigkeit neue Hinderniſſe ſich den Seinigen zu erkennen zu geben, und die verwegene Rotte, die in ſeinem Hauſe ſchon lange den Meiſter geſpielt hatte, herauszutreiben, ſich und die Seinigen in Ruhe zu ſezen. Da finden wir ihn aufs Neue ſo ſcharfſin- nig in Entdekung jeder Gefahr, als erfindriſch und bis zur Bewundrung geſchmeidig, in Abwendung derſelben, bis er endlich zur voͤlligen Ruhe kommt. Bey Ausfuͤhrung dieſes Plans wußte der Dich- Wenn alſo die Jlias verlohren gegangen waͤre, Oefnungen. (Baukunſt.) Unter dieſer allgemeinen Benennung begreifen wir Jn Anſehung der Menge der Oefnungen erfodert feſte
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Niemals fehlet es dem Dichter an<lb/> Bildern, oder Farben zu ſeiner Mahlerey. Alles,<lb/> was er hat ſagen wollen, hat er gewußt in eine<lb/> einzige genau verknuͤpfte Handlung zuſammen zu<lb/> ſezen, welche keiner Unterbrechung unterworfen iſt,<lb/> und wo die Gemuͤthsbewegungen der Perſonen zu<lb/> ihrer vollen Hoͤhe erhebt werden.</p><lb/> <p>Der Held dieſer Epopoͤe iſt ein Mann von ganz<lb/> außerordentlichem Charakter, den uns der Dichter<lb/> im hoͤchſten Lichte, bey unzaͤhligen Vorfaͤllen ſich<lb/> immer gleich, bis auf den kleineſten Zug ausgezeich-<lb/> net, in einer bewundrungswuͤrdigen Schilderung<lb/> darſtellt. Die Fabel ſcheinet an ſich ſehr einfach<lb/> und unbetraͤchtlich. Ulyſſes will nach vollendetem<lb/> Kriegszug gegen Troja, wieder nach Hauſe ziehen.<lb/> Aber er findet auf ſeiner Fahrt unzaͤhlige und oft<lb/> unuͤberwindlich ſcheinende Schwierigkeiten, die er<lb/> alle uͤberſteigt. 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Man bekommt tauſend Dinge zu ſehen, die<lb/> bald die Phantaſie ergezen, bald die Empfindung<lb/> rege machen, bald zum Nachdenken Gelegenheit ge-<lb/> ben, und dennoch behaͤlt man den Helden, auf den<lb/> alles dieſes eine Beziehung hat, beſtaͤndig, als den<lb/> Hauptgegenſtand im Auge.</p><lb/> <p>Wenn alſo die Jlias verlohren gegangen waͤre,<lb/> ſo wuͤrde die Odyſſee noch hinlaͤnglich ſeyn, Homer<lb/> als einen Dichter von bewundrungswuͤrdiger Frucht-<lb/> barkeit des Genies kennen zu lernen.</p> </div><lb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Oefnungen</hi>.<lb/> (Baukunſt.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">U</hi>nter dieſer allgemeinen Benennung begreifen wir<lb/> Portale, Thuͤren und Fenſter der Gebaͤude. 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Ody
Oef
dem man die Jlias geleſen hat. Es iſt ſehr offenbar,
daß die große Ungleichheit zwiſchen beyden Gedichten
in den verſchiedenen Abſichten des Dichters und
nicht in dem Abnehmen ſeines Genies liegt. Die
Odyſſee ſollte ihre eigene Natur, ihren eigenen Plan
haben. Hier iſt indeſſen dieſelbe Mannigfaltigkeit
der Charakter, eben die genaue Zeichnung derſelben,
nach der Verſchiedenheit des Temperaments und der
Neigung jeder Perſon. Alle Affekte und alle Grade
derſelben hat der Poet in ſeiner Gewalt. Hier iſt
uͤberall daſſelbe Leben und dieſelbe Staͤrke der Aus-
bildung. Jn den Beſchreibungen, Bildern und
Gleichniſſen herrſcht die Erfindungskraft beſtaͤndig,
und in dem Ausdruk leuchtet ſie in dem helleſten
Licht hervor. Niemals fehlet es dem Dichter an
Bildern, oder Farben zu ſeiner Mahlerey. Alles,
was er hat ſagen wollen, hat er gewußt in eine
einzige genau verknuͤpfte Handlung zuſammen zu
ſezen, welche keiner Unterbrechung unterworfen iſt,
und wo die Gemuͤthsbewegungen der Perſonen zu
ihrer vollen Hoͤhe erhebt werden.
Der Held dieſer Epopoͤe iſt ein Mann von ganz
außerordentlichem Charakter, den uns der Dichter
im hoͤchſten Lichte, bey unzaͤhligen Vorfaͤllen ſich
immer gleich, bis auf den kleineſten Zug ausgezeich-
net, in einer bewundrungswuͤrdigen Schilderung
darſtellt. Die Fabel ſcheinet an ſich ſehr einfach
und unbetraͤchtlich. Ulyſſes will nach vollendetem
Kriegszug gegen Troja, wieder nach Hauſe ziehen.
Aber er findet auf ſeiner Fahrt unzaͤhlige und oft
unuͤberwindlich ſcheinende Schwierigkeiten, die er
alle uͤberſteigt. Er kommt mehrmal in Umſtaͤnde,
wo es unmoͤglich ſcheinet, daß er auf ſeinem Vor-
haben beſtehen, oder Mittel finden werde, die Hin-
derniſſe zu uͤberwinden. Aber er iſt immer ſtand-
haft, verſchlagen, liſtig und erfinderiſch genug, ſich
ſelbſt zu helfen. Man erſtaunt uͤber die Mannig-
faltigkeit der Vorfaͤlle, die ihm in Weg kommen,
wie uͤber die Unerſchoͤpflichkeit ſeines Genies, uͤber
jeden, bald durch Standhaftigkeit und Muth, bald
durch Verſchlagenheit und Liſt, wegzukommen.
Waͤhrend der langen und hoͤchſt muͤheſamen Fahrt
des Helden, fuͤhret uns der Dichter auch in ſein ſo
lange Zeit von ihm verlaſſenes Haus ein, macht
nus mit ſeiner Familie, und mit allen ſeinen haͤus-
lichen Umſtaͤnden bekannt. Sein Haus und ſein
Vermoͤgen werden ein Raub einer Schaar junger
muthwilliger Maͤnner, die unter dem Vorgeben,
daß er laͤngſt umgekommen ſey, oder gewiß nicht wie-
der erſcheinen werde, ſeine Gemahlin zu einer zwey-
ten Heyrath zu zwingen, ſeinen einzigen Sohn aus
dem Wege zu raͤumen, und ſich ſeiner Herrſchaft
und ſeiner Guͤter zu bemaͤchtigen ſuchen. Nachdem
alſo der Held durch tauſend Wiederwaͤrtigkeiten end-
lich in der armſeligſten Geſtalt in ſeinem Wohnſiz
gluͤklich angekommen, entdeket die ihn nie verlaſ-
ſende Vorſichtigkeit neue Hinderniſſe ſich den Seinigen
zu erkennen zu geben, und die verwegene Rotte, die in
ſeinem Hauſe ſchon lange den Meiſter geſpielt hatte,
herauszutreiben, ſich und die Seinigen in Ruhe zu
ſezen. Da finden wir ihn aufs Neue ſo ſcharfſin-
nig in Entdekung jeder Gefahr, als erfindriſch und
bis zur Bewundrung geſchmeidig, in Abwendung
derſelben, bis er endlich zur voͤlligen Ruhe kommt.
Bey Ausfuͤhrung dieſes Plans wußte der Dich-
ter, deſſen Genie nichts zu ſchweer war, eine unend-
liche Mannigfaltigkeit von Gegenſtaͤnden aus der
Natur und Kunſt, aus den Sitten und Beſchaͤfti-
gungen der Menſchen, Gegenſtaͤnde der Betrach-
tung und Empfindung, in ſeine Erzaͤhlung einzuflech-
ten. Man bekommt tauſend Dinge zu ſehen, die
bald die Phantaſie ergezen, bald die Empfindung
rege machen, bald zum Nachdenken Gelegenheit ge-
ben, und dennoch behaͤlt man den Helden, auf den
alles dieſes eine Beziehung hat, beſtaͤndig, als den
Hauptgegenſtand im Auge.
Wenn alſo die Jlias verlohren gegangen waͤre,
ſo wuͤrde die Odyſſee noch hinlaͤnglich ſeyn, Homer
als einen Dichter von bewundrungswuͤrdiger Frucht-
barkeit des Genies kennen zu lernen.
Oefnungen.
(Baukunſt.)
Unter dieſer allgemeinen Benennung begreifen wir
Portale, Thuͤren und Fenſter der Gebaͤude. Sie
dienen blos zur Nothdurft und Beqaͤumlichkeit; weil
ſie aber an den Außenſeiten, beſonders nach der heu-
tigen Bauart ſehr ins Auge fallen, und als Theile er-
ſcheinen, deren Menge, Stellung, Groͤße, Form
und Verziehrung, einen betraͤchtlichen Einfluß auf
das gute oder ſchlechte Anſehen der Gebaͤude hat,
ſo iſt ſehr noͤthig, daß dabey alles mit guter Ueber-
legung und Geſchmak angeordnet werde.
Jn Anſehung der Menge der Oefnungen erfodert
der gute Geſchmak, daß eine Außenſeite nicht mehr
leeres, als volles, oder nicht mehr Oefnungen, als
feſte
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