ist, dadurch eingeleitet, dass er Jesum diess Schicksal vor- hersehen liess, so mag leicht das Andere, dass er den Ju- das seine Gewinnsucht durch untreue Führung des Beutels voraus schon zeigen lässt, nur Einleitung dazu sein, dass Judas Jesum verrathen hat. Doch, müssen wir auch die johanneischen Winke über den Charakter und die Motive des Judas aufgeben: immerhin behalten wir auch in den oben dargelegten Angaben der Synoptiker die bestimmte- ste Hinweisung auf Habsucht als Grundtriebfeder seiner That.
§. 115. Verschiedene Ansichten über den Charakter des Judas und die Motive seines Verraths.
Von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten hat es sol- che gegeben, welche mit dieser Ansicht der N. T.lichen Schriftsteller von dem Beweggrund des Judas und mit ih- rem durchaus verwerfenden Urtheil über denselben (vgl. A. G. 1, 16 ff.) nicht übereinstimmen zu können glaubten, und zwar können wir sagen, dass diese Abweichung theils aus übertriebenem Supranaturalismus, theils aus einem ra- tionalistischen Hange hervorgegangen ist.
Ein überspannter Supranaturalismus konnte von dem im N. T. selbst an die Hand gegebenen Gesichtspunkt aus, dass der Tod Jesu, im göttlichen Weltplan beschlossen, zum Heil der Menschheit gedient habe, nun auch den Ju- das, durch dessen Verrath der Tod Jesu herbeigeführt wor- den ist, nur als ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung, als einen Mitarbeiter an der Erlösung der Menschheit be- trachten. In dieses Licht konnte er dadurch gestellt wer- den, dass man ihm ein Wissen um jenen göttlichen Rath- schluss lieh, und die Vollziehung desselben als bewussten Zweck seines Verrathes sezte. Diese Betrachtungsweise finden wir wirklich bei der gnostischen Partei der Kaini- ten, welche den alten Häresiologen zufolge den Judas für denjenigen hielten, welcher sich über die beschränkte jü-
Dritter Abschnitt.
ist, dadurch eingeleitet, daſs er Jesum dieſs Schicksal vor- hersehen lieſs, so mag leicht das Andere, daſs er den Ju- das seine Gewinnsucht durch untreue Führung des Beutels voraus schon zeigen läſst, nur Einleitung dazu sein, daſs Judas Jesum verrathen hat. Doch, müssen wir auch die johanneischen Winke über den Charakter und die Motive des Judas aufgeben: immerhin behalten wir auch in den oben dargelegten Angaben der Synoptiker die bestimmte- ste Hinweisung auf Habsucht als Grundtriebfeder seiner That.
§. 115. Verschiedene Ansichten über den Charakter des Judas und die Motive seines Verraths.
Von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten hat es sol- che gegeben, welche mit dieser Ansicht der N. T.lichen Schriftsteller von dem Beweggrund des Judas und mit ih- rem durchaus verwerfenden Urtheil über denselben (vgl. A. G. 1, 16 ff.) nicht übereinstimmen zu können glaubten, und zwar können wir sagen, daſs diese Abweichung theils aus übertriebenem Supranaturalismus, theils aus einem ra- tionalistischen Hange hervorgegangen ist.
Ein überspannter Supranaturalismus konnte von dem im N. T. selbst an die Hand gegebenen Gesichtspunkt aus, daſs der Tod Jesu, im göttlichen Weltplan beschlossen, zum Heil der Menschheit gedient habe, nun auch den Ju- das, durch dessen Verrath der Tod Jesu herbeigeführt wor- den ist, nur als ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung, als einen Mitarbeiter an der Erlösung der Menschheit be- trachten. In dieses Licht konnte er dadurch gestellt wer- den, daſs man ihm ein Wissen um jenen göttlichen Rath- schluſs lieh, und die Vollziehung desselben als bewuſsten Zweck seines Verrathes sezte. Diese Betrachtungsweise finden wir wirklich bei der gnostischen Partei der Kaini- ten, welche den alten Häresiologen zufolge den Judas für denjenigen hielten, welcher sich über die beschränkte jü-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0409"n="390"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Dritter Abschnitt</hi>.</fw><lb/><hirendition="#g">ist</hi>, dadurch eingeleitet, daſs er Jesum dieſs Schicksal vor-<lb/>
hersehen lieſs, so mag leicht das Andere, daſs er den Ju-<lb/>
das seine Gewinnsucht durch untreue Führung des Beutels<lb/>
voraus schon zeigen läſst, nur Einleitung dazu sein, daſs<lb/>
Judas Jesum verrathen <hirendition="#g">hat</hi>. Doch, müssen wir auch die<lb/>
johanneischen Winke über den Charakter und die Motive<lb/>
des Judas aufgeben: immerhin behalten wir auch in den<lb/>
oben dargelegten Angaben der Synoptiker die bestimmte-<lb/>
ste Hinweisung auf Habsucht als Grundtriebfeder seiner That.</p></div><lb/><divn="2"><head>§. 115.<lb/>
Verschiedene Ansichten über den Charakter des Judas und die<lb/>
Motive seines Verraths.</head><lb/><p>Von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten hat es sol-<lb/>
che gegeben, welche mit dieser Ansicht der N. T.lichen<lb/>
Schriftsteller von dem Beweggrund des Judas und mit ih-<lb/>
rem durchaus verwerfenden Urtheil über denselben (vgl.<lb/>
A. G. 1, 16 ff.) nicht übereinstimmen zu können glaubten,<lb/>
und zwar können wir sagen, daſs diese Abweichung theils<lb/>
aus übertriebenem Supranaturalismus, theils aus einem ra-<lb/>
tionalistischen Hange hervorgegangen ist.</p><lb/><p>Ein überspannter Supranaturalismus konnte von dem<lb/>
im N. T. selbst an die Hand gegebenen Gesichtspunkt aus,<lb/>
daſs der Tod Jesu, im göttlichen Weltplan beschlossen,<lb/>
zum Heil der Menschheit gedient habe, nun auch den Ju-<lb/>
das, durch dessen Verrath der Tod Jesu herbeigeführt wor-<lb/>
den ist, nur als ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung,<lb/>
als einen Mitarbeiter an der Erlösung der Menschheit be-<lb/>
trachten. In dieses Licht konnte er dadurch gestellt wer-<lb/>
den, daſs man ihm ein Wissen um jenen göttlichen Rath-<lb/>
schluſs lieh, und die Vollziehung desselben als bewuſsten<lb/>
Zweck seines Verrathes sezte. Diese Betrachtungsweise<lb/>
finden wir wirklich bei der gnostischen Partei der Kaini-<lb/>
ten, welche den alten Häresiologen zufolge den Judas für<lb/>
denjenigen hielten, welcher sich über die beschränkte jü-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[390/0409]
Dritter Abschnitt.
ist, dadurch eingeleitet, daſs er Jesum dieſs Schicksal vor-
hersehen lieſs, so mag leicht das Andere, daſs er den Ju-
das seine Gewinnsucht durch untreue Führung des Beutels
voraus schon zeigen läſst, nur Einleitung dazu sein, daſs
Judas Jesum verrathen hat. Doch, müssen wir auch die
johanneischen Winke über den Charakter und die Motive
des Judas aufgeben: immerhin behalten wir auch in den
oben dargelegten Angaben der Synoptiker die bestimmte-
ste Hinweisung auf Habsucht als Grundtriebfeder seiner That.
§. 115.
Verschiedene Ansichten über den Charakter des Judas und die
Motive seines Verraths.
Von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten hat es sol-
che gegeben, welche mit dieser Ansicht der N. T.lichen
Schriftsteller von dem Beweggrund des Judas und mit ih-
rem durchaus verwerfenden Urtheil über denselben (vgl.
A. G. 1, 16 ff.) nicht übereinstimmen zu können glaubten,
und zwar können wir sagen, daſs diese Abweichung theils
aus übertriebenem Supranaturalismus, theils aus einem ra-
tionalistischen Hange hervorgegangen ist.
Ein überspannter Supranaturalismus konnte von dem
im N. T. selbst an die Hand gegebenen Gesichtspunkt aus,
daſs der Tod Jesu, im göttlichen Weltplan beschlossen,
zum Heil der Menschheit gedient habe, nun auch den Ju-
das, durch dessen Verrath der Tod Jesu herbeigeführt wor-
den ist, nur als ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung,
als einen Mitarbeiter an der Erlösung der Menschheit be-
trachten. In dieses Licht konnte er dadurch gestellt wer-
den, daſs man ihm ein Wissen um jenen göttlichen Rath-
schluſs lieh, und die Vollziehung desselben als bewuſsten
Zweck seines Verrathes sezte. Diese Betrachtungsweise
finden wir wirklich bei der gnostischen Partei der Kaini-
ten, welche den alten Häresiologen zufolge den Judas für
denjenigen hielten, welcher sich über die beschränkte jü-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/409>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.