es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da- her musste nach der späteren Meinung der heilige Mann als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver- wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil- kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte fasste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man- tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des Apostels Paulus entfernte, desto getroster liess man seine Heilkraft im Schweisstuch nach Hause tragen.
§. 94. Heilungen in die Ferne.
Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol- che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent- lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch blosse körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er- folgen diese durch den blossen Willensakt ohne leibliche Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber muss man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, dass sie bei der blossen leiblichen Berührung unwillkührlich sich entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, dass der blosse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin- übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh- ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen. Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be- zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum, und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.
Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil- kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum, Johannes die des kranken Sohns eines basilikos ebenda-
Neuntes Kapitel. §. 94.
es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da- her muſste nach der späteren Meinung der heilige Mann als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver- wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil- kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte faſste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man- tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des Apostels Paulus entfernte, desto getroster lieſs man seine Heilkraft im Schweiſstuch nach Hause tragen.
§. 94. Heilungen in die Ferne.
Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol- che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent- lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch bloſse körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er- folgen diese durch den bloſsen Willensakt ohne leibliche Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber muſs man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, daſs sie bei der bloſsen leiblichen Berührung unwillkührlich sich entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, daſs der bloſse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin- übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh- ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen. Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be- zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum, und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.
Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil- kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum, Johannes die des kranken Sohns eines βασιλικὸς ebenda-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0122"n="103"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 94.</fw><lb/>
es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da-<lb/>
her muſste nach der späteren Meinung der heilige Mann<lb/>
als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver-<lb/>
wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch<lb/>
nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil-<lb/>
kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und<lb/>
dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte<lb/>
faſste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man-<lb/>
tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des<lb/>
Apostels Paulus entfernte, desto getroster lieſs man seine<lb/>
Heilkraft im Schweiſstuch nach Hause tragen.</p></div></div><lb/><divn="2"><head>§. 94.<lb/>
Heilungen in die Ferne.</head><lb/><p>Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol-<lb/>
che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent-<lb/>
lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch bloſse<lb/>
körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er-<lb/>
folgen diese durch den bloſsen Willensakt ohne leibliche<lb/>
Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber<lb/>
muſs man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, daſs<lb/>
sie bei der bloſsen leiblichen Berührung unwillkührlich sich<lb/>
entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, daſs der<lb/>
bloſse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin-<lb/>
übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh-<lb/>
ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so<lb/>
materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen.<lb/>
Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be-<lb/>
zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum,<lb/>
und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der<lb/>
Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.</p><lb/><p>Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil-<lb/>
kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung<lb/>
des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum,<lb/>
Johannes die des kranken Sohns eines βασιλικὸς ebenda-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[103/0122]
Neuntes Kapitel. §. 94.
es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da-
her muſste nach der späteren Meinung der heilige Mann
als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver-
wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch
nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil-
kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und
dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte
faſste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man-
tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des
Apostels Paulus entfernte, desto getroster lieſs man seine
Heilkraft im Schweiſstuch nach Hause tragen.
§. 94.
Heilungen in die Ferne.
Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol-
che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent-
lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch bloſse
körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er-
folgen diese durch den bloſsen Willensakt ohne leibliche
Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber
muſs man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, daſs
sie bei der bloſsen leiblichen Berührung unwillkührlich sich
entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, daſs der
bloſse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin-
übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh-
ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so
materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen.
Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be-
zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum,
und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der
Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.
Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil-
kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung
des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum,
Johannes die des kranken Sohns eines βασιλικὸς ebenda-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/122>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.