so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere entscheiden muss, da das Erstere nach dem so eben Aus- geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü- her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli- sten ist.
Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16--21. müs- sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V. 13. stiess uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al- les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan- gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia- logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel- chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver- schmelzt, und jenen von sich selber reden lässt, wie nur er über Jesum reden konnte.
§. 77. Die Reden Jesu Joh. 5--12.
Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine längere Rede (V. 19--47.). Schon die Weise, wie Jesus V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un- terschied von der Art, wie er diess in den ersten Evange- lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu- mente: das von David, der die Schaubrote ass, woran sich das auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der
Siebentes Kapitel. §. 77.
so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere entscheiden muſs, da das Erstere nach dem so eben Aus- geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü- her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli- sten ist.
Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16—21. müs- sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V. 13. stieſs uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al- les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan- gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia- logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel- chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver- schmelzt, und jenen von sich selber reden läſst, wie nur er über Jesum reden konnte.
§. 77. Die Reden Jesu Joh. 5—12.
Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine längere Rede (V. 19—47.). Schon die Weise, wie Jesus V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un- terschied von der Art, wie er dieſs in den ersten Evange- lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu- mente: das von David, der die Schaubrote aſs, woran sich das auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0669"n="645"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Siebentes Kapitel</hi>. §. 77.</fw><lb/>
so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem<lb/>
Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere<lb/>
entscheiden muſs, da das Erstere nach dem so eben Aus-<lb/>
geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü-<lb/>
her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli-<lb/>
sten ist.</p><lb/><p>Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16—21. müs-<lb/>
sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten<lb/>
Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V.<lb/>
13. stieſs uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des<lb/>
Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich<lb/>
dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al-<lb/>
les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan-<lb/>
gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit<lb/>
dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits<lb/>
gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm<lb/>
mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia-<lb/>
logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des<lb/>
Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und<lb/>
fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber<lb/>
verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel-<lb/>
chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver-<lb/>
schmelzt, und jenen von sich selber reden läſst, wie nur<lb/>
er über Jesum reden konnte.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 77.<lb/>
Die Reden Jesu Joh. 5—12.</head><lb/><p>Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft<lb/>
sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine<lb/>
längere Rede (V. 19—47.). Schon die Weise, wie Jesus<lb/>
V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un-<lb/>
terschied von der Art, wie er dieſs in den ersten Evange-<lb/>
lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu-<lb/>
mente: das von David, der die Schaubrote aſs, woran sich das<lb/>
auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[645/0669]
Siebentes Kapitel. §. 77.
so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem
Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere
entscheiden muſs, da das Erstere nach dem so eben Aus-
geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü-
her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli-
sten ist.
Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16—21. müs-
sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten
Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V.
13. stieſs uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des
Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich
dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al-
les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan-
gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit
dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits
gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm
mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia-
logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des
Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und
fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber
verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel-
chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver-
schmelzt, und jenen von sich selber reden läſst, wie nur
er über Jesum reden konnte.
§. 77.
Die Reden Jesu Joh. 5—12.
Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft
sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine
längere Rede (V. 19—47.). Schon die Weise, wie Jesus
V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un-
terschied von der Art, wie er dieſs in den ersten Evange-
lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu-
mente: das von David, der die Schaubrote aſs, woran sich das
auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/669>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.