Fünftes Kapitel. Der erste Tempelbesuch und die Bil- dung Jesu.
§. 36. Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Schwierigkeiten der ge- schichtlichen Auffassung.
Über die ganze Periode von der Rückkehr der Eltern Jesu mit ihrem Kinde aus Ägypten bis zu der Taufe Jesu durch Johannes geht das Matthäus-Evangelium stillschwei- gend hinweg, und auch Lukas weiss uns aus der langen Zeit von der ersten Kindheit Jesu bis zu seinem Mannes- alter nur Einen Vorfall noch zu berichten, die Art und Weise nämlich, wie er im zwölften Lebensjahre im Tem- pel zu Jerusalem auftrat (2, 41--52.). Diese Erzählung aus der beginnenden Jugend Jesu unterscheidet sich von den bisher betrachteten aus seiner Kindheit nach der richtigen Beobachtung von Hess1) dadurch, dass sich in derselben Jesus nicht mehr, wie in jenen, blos leidend verhält, son- dern eine thätige Probe von seiner hohen Bestimmung ab- legt, und zwar hat man dieselbe von jeher als eine sol- che besonders geschäzt, die uns den Moment zeige, in wel- chem das höhere Bewusstsein in Jesu hervorgetreten sei 2).
Im zwölften Jahre, wo nach jüdischer Sitte der Kna- be zum selbstständigen Antheil an den heiligen Gebräuchen gelangte, nahmen dieser Erzählung zufolge die Eltern, wie es scheint zum erstenmale, Jesum zum Paschafeste nach Jerusalem mit. Nach Ablauf der Festzeit traten die Eltern den Rückweg an; dass der Sohn ihnen fehlte, bekümmerte
1) Geschichte Jesu, 1, S. 110.
2)Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 149.
Fünftes Kapitel. §. 36.
Fünftes Kapitel. Der erste Tempelbesuch und die Bil- dung Jesu.
§. 36. Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Schwierigkeiten der ge- schichtlichen Auffassung.
Über die ganze Periode von der Rückkehr der Eltern Jesu mit ihrem Kinde aus Ägypten bis zu der Taufe Jesu durch Johannes geht das Matthäus-Evangelium stillschwei- gend hinweg, und auch Lukas weiſs uns aus der langen Zeit von der ersten Kindheit Jesu bis zu seinem Mannes- alter nur Einen Vorfall noch zu berichten, die Art und Weise nämlich, wie er im zwölften Lebensjahre im Tem- pel zu Jerusalem auftrat (2, 41—52.). Diese Erzählung aus der beginnenden Jugend Jesu unterscheidet sich von den bisher betrachteten aus seiner Kindheit nach der richtigen Beobachtung von Hess1) dadurch, daſs sich in derselben Jesus nicht mehr, wie in jenen, blos leidend verhält, son- dern eine thätige Probe von seiner hohen Bestimmung ab- legt, und zwar hat man dieselbe von jeher als eine sol- che besonders geschäzt, die uns den Moment zeige, in wel- chem das höhere Bewuſstsein in Jesu hervorgetreten sei 2).
Im zwölften Jahre, wo nach jüdischer Sitte der Kna- be zum selbstständigen Antheil an den heiligen Gebräuchen gelangte, nahmen dieser Erzählung zufolge die Eltern, wie es scheint zum erstenmale, Jesum zum Paschafeste nach Jerusalem mit. Nach Ablauf der Festzeit traten die Eltern den Rückweg an; daſs der Sohn ihnen fehlte, bekümmerte
1) Geschichte Jesu, 1, S. 110.
2)Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 149.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0303"n="279"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Fünftes Kapitel</hi>. §. 36.</fw><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Fünftes Kapitel</hi>.<lb/>
Der erste Tempelbesuch und die Bil-<lb/>
dung Jesu.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><head>§. 36.<lb/>
Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Schwierigkeiten der ge-<lb/>
schichtlichen Auffassung.</head><lb/><p>Über die ganze Periode von der Rückkehr der Eltern<lb/>
Jesu mit ihrem Kinde aus Ägypten bis zu der Taufe Jesu<lb/>
durch Johannes geht das Matthäus-Evangelium stillschwei-<lb/>
gend hinweg, und auch Lukas weiſs uns aus der langen<lb/>
Zeit von der ersten Kindheit Jesu bis zu seinem Mannes-<lb/>
alter nur Einen Vorfall noch zu berichten, die Art und<lb/>
Weise nämlich, wie er im zwölften Lebensjahre im Tem-<lb/>
pel zu Jerusalem auftrat (2, 41—52.). Diese Erzählung<lb/>
aus der beginnenden Jugend Jesu unterscheidet sich von den<lb/>
bisher betrachteten aus seiner Kindheit nach der richtigen<lb/>
Beobachtung von <hirendition="#k">Hess</hi><noteplace="foot"n="1)">Geschichte Jesu, 1, S. 110.</note> dadurch, daſs sich in derselben<lb/>
Jesus nicht mehr, wie in jenen, blos leidend verhält, son-<lb/>
dern eine thätige Probe von seiner hohen Bestimmung ab-<lb/>
legt, und zwar hat man dieselbe von jeher als eine sol-<lb/>
che besonders geschäzt, die uns den Moment zeige, in wel-<lb/>
chem das höhere Bewuſstsein in Jesu hervorgetreten sei <noteplace="foot"n="2)"><hirendition="#k">Olshausen</hi>, bibl. Comm. 1, S. 149.</note>.</p><lb/><p>Im zwölften Jahre, wo nach jüdischer Sitte der Kna-<lb/>
be zum selbstständigen Antheil an den heiligen Gebräuchen<lb/>
gelangte, nahmen dieser Erzählung zufolge die Eltern, wie<lb/>
es scheint zum erstenmale, Jesum zum Paschafeste nach<lb/>
Jerusalem mit. Nach Ablauf der Festzeit traten die Eltern<lb/>
den Rückweg an; daſs der Sohn ihnen fehlte, bekümmerte<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[279/0303]
Fünftes Kapitel. §. 36.
Fünftes Kapitel.
Der erste Tempelbesuch und die Bil-
dung Jesu.
§. 36.
Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Schwierigkeiten der ge-
schichtlichen Auffassung.
Über die ganze Periode von der Rückkehr der Eltern
Jesu mit ihrem Kinde aus Ägypten bis zu der Taufe Jesu
durch Johannes geht das Matthäus-Evangelium stillschwei-
gend hinweg, und auch Lukas weiſs uns aus der langen
Zeit von der ersten Kindheit Jesu bis zu seinem Mannes-
alter nur Einen Vorfall noch zu berichten, die Art und
Weise nämlich, wie er im zwölften Lebensjahre im Tem-
pel zu Jerusalem auftrat (2, 41—52.). Diese Erzählung
aus der beginnenden Jugend Jesu unterscheidet sich von den
bisher betrachteten aus seiner Kindheit nach der richtigen
Beobachtung von Hess 1) dadurch, daſs sich in derselben
Jesus nicht mehr, wie in jenen, blos leidend verhält, son-
dern eine thätige Probe von seiner hohen Bestimmung ab-
legt, und zwar hat man dieselbe von jeher als eine sol-
che besonders geschäzt, die uns den Moment zeige, in wel-
chem das höhere Bewuſstsein in Jesu hervorgetreten sei 2).
Im zwölften Jahre, wo nach jüdischer Sitte der Kna-
be zum selbstständigen Antheil an den heiligen Gebräuchen
gelangte, nahmen dieser Erzählung zufolge die Eltern, wie
es scheint zum erstenmale, Jesum zum Paschafeste nach
Jerusalem mit. Nach Ablauf der Festzeit traten die Eltern
den Rückweg an; daſs der Sohn ihnen fehlte, bekümmerte
1) Geschichte Jesu, 1, S. 110.
2) Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 149.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/303>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.