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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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nicht Christ u. s. w., sondern sei Mensch, nichts als Mensch!
Mach deine Menschlichkeit gegen jede beschränkende Be¬
stimmung geltend, mach Dich mittelst ihrer zum Menschen und
von jenen Schranken frei, mach Dich zum "freien Menschen",
d. h. erkenne die Menschlichkeit als dein alles bestimmendes
Wesen.

Ich sage: Du bist zwar mehr als Jude, mehr als Christ
u. s. w., aber Du bist auch mehr als Mensch. Das sind
alles Ideen, Du aber bist leibhaftig. Meinst Du denn, jemals
"Mensch als solcher" werden zu können? Meinst Du, unsere
Nachkommen werden keine Vorurtheile und Schranken wegzu¬
schaffen finden, für die unsere Kräfte nicht hinreichten? Oder
glaubst Du etwa in deinem 40sten oder 50sten Jahre so weit
gekommen zu sein, daß die folgenden Tage nichts mehr an
Dir aufzulösen hätten, und daß Du Mensch wärest? Die
Menschen der Nachwelt werden noch manche Freiheit erkämpfen,
die Wir nicht einmal entbehren. Wozu brauchst Du jene
spätere Freiheit? Wolltest Du Dich für nichts achten, bevor
Du Mensch geworden, so müßtest Du bis zum "jüngsten Ge¬
richt" warten, bis zu dem Tage, wo der Mensch oder die
Menschheit die Vollkommenheit erlangt haben soll. Da Du
aber sicherlich vorher stirbst, wo bleibt dein Siegespreis?

Drum kehre Du Dir die Sache lieber um und sage Dir:
Ich bin Mensch! Ich brauche den Menschen nicht erst in
Mir herzustellen, denn er gehört Mir schon, wie alle meine
Eigenschaften.

Wie kann man aber, fragt der Kritiker, zugleich Jude und
Mensch sein? Erstens, antworte Ich, kann man überhaupt
weder Jude noch Mensch sein, wenn "man" und Jude oder
Mensch dasselbe bedeuten sollen; "man" greift immer über jene

nicht Chriſt u. ſ. w., ſondern ſei Menſch, nichts als Menſch!
Mach deine Menſchlichkeit gegen jede beſchränkende Be¬
ſtimmung geltend, mach Dich mittelſt ihrer zum Menſchen und
von jenen Schranken frei, mach Dich zum „freien Menſchen“,
d. h. erkenne die Menſchlichkeit als dein alles beſtimmendes
Weſen.

Ich ſage: Du biſt zwar mehr als Jude, mehr als Chriſt
u. ſ. w., aber Du biſt auch mehr als Menſch. Das ſind
alles Ideen, Du aber biſt leibhaftig. Meinſt Du denn, jemals
„Menſch als ſolcher“ werden zu können? Meinſt Du, unſere
Nachkommen werden keine Vorurtheile und Schranken wegzu¬
ſchaffen finden, für die unſere Kräfte nicht hinreichten? Oder
glaubſt Du etwa in deinem 40ſten oder 50ſten Jahre ſo weit
gekommen zu ſein, daß die folgenden Tage nichts mehr an
Dir aufzulöſen hätten, und daß Du Menſch wäreſt? Die
Menſchen der Nachwelt werden noch manche Freiheit erkämpfen,
die Wir nicht einmal entbehren. Wozu brauchſt Du jene
ſpätere Freiheit? Wollteſt Du Dich für nichts achten, bevor
Du Menſch geworden, ſo müßteſt Du bis zum „jüngſten Ge¬
richt“ warten, bis zu dem Tage, wo der Menſch oder die
Menſchheit die Vollkommenheit erlangt haben ſoll. Da Du
aber ſicherlich vorher ſtirbſt, wo bleibt dein Siegespreis?

Drum kehre Du Dir die Sache lieber um und ſage Dir:
Ich bin Menſch! Ich brauche den Menſchen nicht erſt in
Mir herzuſtellen, denn er gehört Mir ſchon, wie alle meine
Eigenſchaften.

Wie kann man aber, fragt der Kritiker, zugleich Jude und
Menſch ſein? Erſtens, antworte Ich, kann man überhaupt
weder Jude noch Menſch ſein, wenn „man“ und Jude oder
Menſch daſſelbe bedeuten ſollen; „man“ greift immer über jene

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[167/0175] nicht Chriſt u. ſ. w., ſondern ſei Menſch, nichts als Menſch! Mach deine Menſchlichkeit gegen jede beſchränkende Be¬ ſtimmung geltend, mach Dich mittelſt ihrer zum Menſchen und von jenen Schranken frei, mach Dich zum „freien Menſchen“, d. h. erkenne die Menſchlichkeit als dein alles beſtimmendes Weſen. Ich ſage: Du biſt zwar mehr als Jude, mehr als Chriſt u. ſ. w., aber Du biſt auch mehr als Menſch. Das ſind alles Ideen, Du aber biſt leibhaftig. Meinſt Du denn, jemals „Menſch als ſolcher“ werden zu können? Meinſt Du, unſere Nachkommen werden keine Vorurtheile und Schranken wegzu¬ ſchaffen finden, für die unſere Kräfte nicht hinreichten? Oder glaubſt Du etwa in deinem 40ſten oder 50ſten Jahre ſo weit gekommen zu ſein, daß die folgenden Tage nichts mehr an Dir aufzulöſen hätten, und daß Du Menſch wäreſt? Die Menſchen der Nachwelt werden noch manche Freiheit erkämpfen, die Wir nicht einmal entbehren. Wozu brauchſt Du jene ſpätere Freiheit? Wollteſt Du Dich für nichts achten, bevor Du Menſch geworden, ſo müßteſt Du bis zum „jüngſten Ge¬ richt“ warten, bis zu dem Tage, wo der Menſch oder die Menſchheit die Vollkommenheit erlangt haben ſoll. Da Du aber ſicherlich vorher ſtirbſt, wo bleibt dein Siegespreis? Drum kehre Du Dir die Sache lieber um und ſage Dir: Ich bin Menſch! Ich brauche den Menſchen nicht erſt in Mir herzuſtellen, denn er gehört Mir ſchon, wie alle meine Eigenſchaften. Wie kann man aber, fragt der Kritiker, zugleich Jude und Menſch ſein? Erſtens, antworte Ich, kann man überhaupt weder Jude noch Menſch ſein, wenn „man“ und Jude oder Menſch daſſelbe bedeuten ſollen; „man“ greift immer über jene

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/175>, abgerufen am 26.04.2024.