Vor meinem väterlichen Geburtshause dicht neben der Eingangsthür in dasselbe liegt ein großer acht¬ ekiger Stein von der Gestalt eines sehr in die Länge gezogenen Würfels. Seine Seitenflächen sind roh ausgehauen, seine obere Fläche aber ist von dem vielen Sizen so fein und glatt geworden, als wäre sie mit der kunstreichsten Glasur überzogen. Der Stein ist sehr alt, und niemand erinnert sich, von einer Zeit gehört zu haben, wann er gelegt worden sei. Die urältesten Greise unsers Hauses waren auf dem Steine gesessen, so wie jene, welche in zarter Jugend hinweggestorben waren, und nebst all den andern in dem Kirchhofe schlummern. Das Alter beweist auch der Umstand, daß die Sandsteinplatten, welche dem Steine zur Unterlage dienen, schon ganz ausgetreten, und dort, wo sie unter die Dachtraufe hinaus ragen,
2*
1. Granit.
Vor meinem väterlichen Geburtshauſe dicht neben der Eingangsthür in dasſelbe liegt ein großer acht¬ ekiger Stein von der Geſtalt eines ſehr in die Länge gezogenen Würfels. Seine Seitenflächen ſind roh ausgehauen, ſeine obere Fläche aber iſt von dem vielen Sizen ſo fein und glatt geworden, als wäre ſie mit der kunſtreichſten Glaſur überzogen. Der Stein iſt ſehr alt, und niemand erinnert ſich, von einer Zeit gehört zu haben, wann er gelegt worden ſei. Die urälteſten Greiſe unſers Hauſes waren auf dem Steine geſeſſen, ſo wie jene, welche in zarter Jugend hinweggeſtorben waren, und nebſt all den andern in dem Kirchhofe ſchlummern. Das Alter beweiſt auch der Umſtand, daß die Sandſteinplatten, welche dem Steine zur Unterlage dienen, ſchon ganz ausgetreten, und dort, wo ſie unter die Dachtraufe hinaus ragen,
2*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0032"n="[19]"/><divn="2"><head>1.<lb/><hirendition="#b #fr #g">Granit.</hi><lb/></head><p>Vor meinem väterlichen Geburtshauſe dicht neben<lb/>
der Eingangsthür in dasſelbe liegt ein großer acht¬<lb/>
ekiger Stein von der Geſtalt eines ſehr in die Länge<lb/>
gezogenen Würfels. Seine Seitenflächen ſind roh<lb/>
ausgehauen, ſeine obere Fläche aber iſt von dem<lb/>
vielen Sizen ſo fein und glatt geworden, als wäre<lb/>ſie mit der kunſtreichſten Glaſur überzogen. Der Stein<lb/>
iſt ſehr alt, und niemand erinnert ſich, von einer<lb/>
Zeit gehört zu haben, wann er gelegt worden ſei.<lb/>
Die urälteſten Greiſe unſers Hauſes waren auf dem<lb/>
Steine geſeſſen, ſo wie jene, welche in zarter Jugend<lb/>
hinweggeſtorben waren, und nebſt all den andern in<lb/>
dem Kirchhofe ſchlummern. Das Alter beweiſt auch<lb/>
der Umſtand, daß die Sandſteinplatten, welche dem<lb/>
Steine zur Unterlage dienen, ſchon ganz ausgetreten,<lb/>
und dort, wo ſie unter die Dachtraufe hinaus ragen,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">2*<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[[19]/0032]
1.
Granit.
Vor meinem väterlichen Geburtshauſe dicht neben
der Eingangsthür in dasſelbe liegt ein großer acht¬
ekiger Stein von der Geſtalt eines ſehr in die Länge
gezogenen Würfels. Seine Seitenflächen ſind roh
ausgehauen, ſeine obere Fläche aber iſt von dem
vielen Sizen ſo fein und glatt geworden, als wäre
ſie mit der kunſtreichſten Glaſur überzogen. Der Stein
iſt ſehr alt, und niemand erinnert ſich, von einer
Zeit gehört zu haben, wann er gelegt worden ſei.
Die urälteſten Greiſe unſers Hauſes waren auf dem
Steine geſeſſen, ſo wie jene, welche in zarter Jugend
hinweggeſtorben waren, und nebſt all den andern in
dem Kirchhofe ſchlummern. Das Alter beweiſt auch
der Umſtand, daß die Sandſteinplatten, welche dem
Steine zur Unterlage dienen, ſchon ganz ausgetreten,
und dort, wo ſie unter die Dachtraufe hinaus ragen,
2*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 1. Pest u. a., 1853, S. [19]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine01_1853/32>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.