Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

mal zugestehen, daß sie an Würde der chemischen Verbindung
der Elemente gleich komme, so wollen wir damit ausdrücken,
daß das Wort als Einheit von Begriff und Laut nur die Summe
beider ist, nicht aber etwas Drittes, von beiden in ihrer Beson-
derheit Verschiedenes, nicht etwas Neues, durch ihre Vereinigung
Erzeugtes, in welchem jedes der beiden als solches nicht mehr
da wäre. Wasser z. B. ist die chemische Einheit von Wasser-
stoff und Sauerstoff, aber etwas ganz Anderes nicht nur als jedes
von beiden, sondern auch als die mechanische Summe oder
Mengung beider; beide Elemente sind als solche gar nicht mehr
im Wasser vorhanden. Das Wasser hat darum auch Eigen-
genschaften, erfährt Veränderungen und geht Verbindungen ein,
welche nur ihm eigenthümlich sind und nicht seinen Elementen
in ihrer Getrenntheit zukommen. Und ebenso ist es in andern
Fällen. Zwei Substanzen, welche beide ohne Schaden gegessen
werden können, sind tödtliches Gift, wenn sie als eine chemische
Verbindung gegessen werden. Nicht in diesem Sinne ist die
Sprache Einheit von Gedanke und Laut; sondern diese beiden
Seiten, Theile der Sprache, werden jeder für sich betrachtet,
und ihre Summe ist das Ganze der Sprache. Gewisse Verände-
rungen betreffen den Laut, nicht den Begriff; andere diesen und
nicht jenen; und in noch anderen Fällen laufen Begriffs- und
Lautabänderung parallel neben einander. Es giebt aber keine
Veränderung, keine Eigenschaft des Wortes, die nicht eben eine
des Begriffs oder eine des Lautes oder beider zugleich wäre;
denn es ist kein Erzeugniß von diesen beiden und etwas von
ihnen Verschiedenes, sondern nur ihr Zusammen, also mecha-
nische Einheit. Wir haben den Schein aufzuheben, als verhielte
es sich bei Becker anders.

§. 26. Classification des Wortvorraths.

In seiner Betrachtung des Wortes, die er nicht bloß in
dem ihr gewidmeten Abschnitte im "Organism", sondern auch
in einem besonderen Werke "Das Wort in seiner organischen
Verwandlung" ausführlich gegeben hat, erregt Becker den
Schein, als wenn das Wort als Einheit von Begriff und Laut
doch mehr wäre, als ihr bloßes Zusammen. Er sagt (das Wort
S. 24): "Das Wort ist die Einheit von Laut und Begriff.
Die Betrachtung des Abänderungsvorganges behandelt daher"
(So schnell macht Becker Schlüsse! aus dem völlig unbestimmt
gelassenen Ausdrucke "Einheit"!) "in drei Abschnitten zuerst

mal zugestehen, daß sie an Würde der chemischen Verbindung
der Elemente gleich komme, so wollen wir damit ausdrücken,
daß das Wort als Einheit von Begriff und Laut nur die Summe
beider ist, nicht aber etwas Drittes, von beiden in ihrer Beson-
derheit Verschiedenes, nicht etwas Neues, durch ihre Vereinigung
Erzeugtes, in welchem jedes der beiden als solches nicht mehr
da wäre. Wasser z. B. ist die chemische Einheit von Wasser-
stoff und Sauerstoff, aber etwas ganz Anderes nicht nur als jedes
von beiden, sondern auch als die mechanische Summe oder
Mengung beider; beide Elemente sind als solche gar nicht mehr
im Wasser vorhanden. Das Wasser hat darum auch Eigen-
genschaften, erfährt Veränderungen und geht Verbindungen ein,
welche nur ihm eigenthümlich sind und nicht seinen Elementen
in ihrer Getrenntheit zukommen. Und ebenso ist es in andern
Fällen. Zwei Substanzen, welche beide ohne Schaden gegessen
werden können, sind tödtliches Gift, wenn sie als eine chemische
Verbindung gegessen werden. Nicht in diesem Sinne ist die
Sprache Einheit von Gedanke und Laut; sondern diese beiden
Seiten, Theile der Sprache, werden jeder für sich betrachtet,
und ihre Summe ist das Ganze der Sprache. Gewisse Verände-
rungen betreffen den Laut, nicht den Begriff; andere diesen und
nicht jenen; und in noch anderen Fällen laufen Begriffs- und
Lautabänderung parallel neben einander. Es giebt aber keine
Veränderung, keine Eigenschaft des Wortes, die nicht eben eine
des Begriffs oder eine des Lautes oder beider zugleich wäre;
denn es ist kein Erzeugniß von diesen beiden und etwas von
ihnen Verschiedenes, sondern nur ihr Zusammen, also mecha-
nische Einheit. Wir haben den Schein aufzuheben, als verhielte
es sich bei Becker anders.

§. 26. Classification des Wortvorraths.

In seiner Betrachtung des Wortes, die er nicht bloß in
dem ihr gewidmeten Abschnitte im „Organism“, sondern auch
in einem besonderen Werke „Das Wort in seiner organischen
Verwandlung“ ausführlich gegeben hat, erregt Becker den
Schein, als wenn das Wort als Einheit von Begriff und Laut
doch mehr wäre, als ihr bloßes Zusammen. Er sagt (das Wort
S. 24): „Das Wort ist die Einheit von Laut und Begriff.
Die Betrachtung des Abänderungsvorganges behandelt daher
(So schnell macht Becker Schlüsse! aus dem völlig unbestimmt
gelassenen Ausdrucke „Einheit“!) „in drei Abschnitten zuerst

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0097" n="59"/>
mal zugestehen, daß sie an Würde der chemischen Verbindung<lb/>
der Elemente gleich komme, so wollen wir damit ausdrücken,<lb/>
daß das Wort als Einheit von Begriff und Laut nur die Summe<lb/>
beider ist, nicht aber etwas Drittes, von beiden in ihrer Beson-<lb/>
derheit Verschiedenes, nicht etwas Neues, durch ihre Vereinigung<lb/>
Erzeugtes, in welchem jedes der beiden als solches nicht mehr<lb/>
da wäre. Wasser z. B. ist die chemische Einheit von Wasser-<lb/>
stoff und Sauerstoff, aber etwas ganz Anderes nicht nur als jedes<lb/>
von beiden, sondern auch als die mechanische Summe oder<lb/>
Mengung beider; beide Elemente sind als solche gar nicht mehr<lb/>
im Wasser vorhanden. Das Wasser hat darum auch Eigen-<lb/>
genschaften, erfährt Veränderungen und geht Verbindungen ein,<lb/>
welche nur ihm eigenthümlich sind und nicht seinen Elementen<lb/>
in ihrer Getrenntheit zukommen. Und ebenso ist es in andern<lb/>
Fällen. Zwei Substanzen, welche beide ohne Schaden gegessen<lb/>
werden können, sind tödtliches Gift, wenn sie als eine chemische<lb/>
Verbindung gegessen werden. Nicht in diesem Sinne ist die<lb/>
Sprache Einheit von Gedanke und Laut; sondern diese beiden<lb/>
Seiten, Theile der Sprache, werden jeder für sich betrachtet,<lb/>
und ihre Summe ist das Ganze der Sprache. Gewisse Verände-<lb/>
rungen betreffen den Laut, nicht den Begriff; andere diesen und<lb/>
nicht jenen; und in noch anderen Fällen laufen Begriffs- und<lb/>
Lautabänderung parallel neben einander. Es giebt aber keine<lb/>
Veränderung, keine Eigenschaft des Wortes, die nicht eben eine<lb/>
des Begriffs oder eine des Lautes oder beider zugleich wäre;<lb/>
denn es ist kein Erzeugniß von diesen beiden und etwas von<lb/>
ihnen Verschiedenes, sondern nur ihr Zusammen, also mecha-<lb/>
nische Einheit. Wir haben den Schein aufzuheben, als verhielte<lb/>
es sich bei Becker anders.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 26. Classification des Wortvorraths.</head><lb/>
                <p>In seiner Betrachtung des Wortes, die er nicht bloß in<lb/>
dem ihr gewidmeten Abschnitte im &#x201E;Organism&#x201C;, sondern auch<lb/>
in einem besonderen Werke &#x201E;Das Wort in seiner organischen<lb/>
Verwandlung&#x201C; ausführlich gegeben hat, erregt Becker den<lb/><hi rendition="#g">Schein,</hi> als wenn das Wort als Einheit von Begriff und Laut<lb/>
doch mehr wäre, als ihr bloßes Zusammen. Er sagt (das Wort<lb/>
S. 24): &#x201E;Das Wort ist die Einheit von <hi rendition="#g">Laut</hi> und <hi rendition="#g">Begriff</hi>.<lb/>
Die Betrachtung des Abänderungsvorganges behandelt <hi rendition="#g">daher</hi>&#x201C;<lb/>
(So schnell macht Becker Schlüsse! aus dem völlig unbestimmt<lb/>
gelassenen Ausdrucke &#x201E;Einheit&#x201C;!) &#x201E;in drei Abschnitten zuerst<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0097] mal zugestehen, daß sie an Würde der chemischen Verbindung der Elemente gleich komme, so wollen wir damit ausdrücken, daß das Wort als Einheit von Begriff und Laut nur die Summe beider ist, nicht aber etwas Drittes, von beiden in ihrer Beson- derheit Verschiedenes, nicht etwas Neues, durch ihre Vereinigung Erzeugtes, in welchem jedes der beiden als solches nicht mehr da wäre. Wasser z. B. ist die chemische Einheit von Wasser- stoff und Sauerstoff, aber etwas ganz Anderes nicht nur als jedes von beiden, sondern auch als die mechanische Summe oder Mengung beider; beide Elemente sind als solche gar nicht mehr im Wasser vorhanden. Das Wasser hat darum auch Eigen- genschaften, erfährt Veränderungen und geht Verbindungen ein, welche nur ihm eigenthümlich sind und nicht seinen Elementen in ihrer Getrenntheit zukommen. Und ebenso ist es in andern Fällen. Zwei Substanzen, welche beide ohne Schaden gegessen werden können, sind tödtliches Gift, wenn sie als eine chemische Verbindung gegessen werden. Nicht in diesem Sinne ist die Sprache Einheit von Gedanke und Laut; sondern diese beiden Seiten, Theile der Sprache, werden jeder für sich betrachtet, und ihre Summe ist das Ganze der Sprache. Gewisse Verände- rungen betreffen den Laut, nicht den Begriff; andere diesen und nicht jenen; und in noch anderen Fällen laufen Begriffs- und Lautabänderung parallel neben einander. Es giebt aber keine Veränderung, keine Eigenschaft des Wortes, die nicht eben eine des Begriffs oder eine des Lautes oder beider zugleich wäre; denn es ist kein Erzeugniß von diesen beiden und etwas von ihnen Verschiedenes, sondern nur ihr Zusammen, also mecha- nische Einheit. Wir haben den Schein aufzuheben, als verhielte es sich bei Becker anders. §. 26. Classification des Wortvorraths. In seiner Betrachtung des Wortes, die er nicht bloß in dem ihr gewidmeten Abschnitte im „Organism“, sondern auch in einem besonderen Werke „Das Wort in seiner organischen Verwandlung“ ausführlich gegeben hat, erregt Becker den Schein, als wenn das Wort als Einheit von Begriff und Laut doch mehr wäre, als ihr bloßes Zusammen. Er sagt (das Wort S. 24): „Das Wort ist die Einheit von Laut und Begriff. Die Betrachtung des Abänderungsvorganges behandelt daher“ (So schnell macht Becker Schlüsse! aus dem völlig unbestimmt gelassenen Ausdrucke „Einheit“!) „in drei Abschnitten zuerst

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/97
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/97>, abgerufen am 22.12.2024.