Dinges dadurch, daß wir sagen, ein Ding werde geboren. Das Wort wird mit dem Begriffe geboren und nicht erst für den schon vorhandenen Begriff gefunden." Weil man also früher diese nothwendige Geburt der Sprache nicht erkannte, sank man mit dem besten Willen, die phusis der Sprache zu behaupten, immer in die thesis derselben hinein; und zuletzt war die Frage nur noch, ob diese thesis vom Menschen, oder von Gott ausgegangen sei.
Weil aber Becker den Begriff des Organismus nicht in hinlänglicher Bestimmtheit und nach seiner vollen Würde er- faßt, und noch viel weniger das Wesen der Menschheit, die Freiheit, erkannt hat, darum bleibt sein Streben ohne Ver- wirklichung; darum ergeht es ihm ähnlich wie den Alten: auch er sinkt in das Unorganische zurück, und er wird nur der Voll- ender der alten, nicht der Gründer der neuen Grammatik. Man betrachte nur die eben angeführten Worte, die zu seinen besten gehören. Wird denselben gemäß nicht auch der verpestende Dunst faulender Sümpfe organisch geboren? Daher kommt es, daß, so wie Becker über das Wort "Organisch" hinausgeht, er dem Alten und nicht dem Neuen gehört. Er behauptet, die Sprache sei organisch; wie er sie aber darlegt, so treten in ihr nur wesentlich dieselben logisch-mechanischen Verhältnisse her- vor, wie bei den früheren Grammatikern. Dies wollen wir aus- führlicher nachweisen, und zwar eben sowohl in der lexikalischen als in der grammatischen Betrachtung der Sprache.
§. 25. Einheit von Begriff und Laut im Worte.
Es ist nicht bloß die Spaltung in einfache Gegensätze, welche das Unorganische vom Organischen scheidet, sondern auch vorzüglich die Weise, wie die Glieder des Gegensatzes sich in der Einheit zu einander verhalten. Wie verschieden stehen in dieser Beziehung positive und negative Electricität, Nord- und Südpolarität einerseits und Muskel und Nerv, Be- wegung und Empfindung andererseits zu einander! Die Glieder des organischen Verhältnisses -- von einem Gegensatze zwischen Muskel und Nerv kann ja gar nicht in dem Sinne die Rede sein, wie zwischen Nord- und Südpolarität; es ist Beckers Will- kür, Muskel und Nerv so einander gegenüber zu stellen, da das Gefäßsystem mit dem Blute und der Lymphe und auch das Knochensysiem zugleich in das Verhältniß eintreten; die Dicho- tomie zerreißt allemal den Organismus -- diese Glieder des
Dinges dadurch, daß wir sagen, ein Ding werde geboren. Das Wort wird mit dem Begriffe geboren und nicht erst für den schon vorhandenen Begriff gefunden.“ Weil man also früher diese nothwendige Geburt der Sprache nicht erkannte, sank man mit dem besten Willen, die φύσις der Sprache zu behaupten, immer in die ϑέσις derselben hinein; und zuletzt war die Frage nur noch, ob diese ϑέσις vom Menschen, oder von Gott ausgegangen sei.
Weil aber Becker den Begriff des Organismus nicht in hinlänglicher Bestimmtheit und nach seiner vollen Würde er- faßt, und noch viel weniger das Wesen der Menschheit, die Freiheit, erkannt hat, darum bleibt sein Streben ohne Ver- wirklichung; darum ergeht es ihm ähnlich wie den Alten: auch er sinkt in das Unorganische zurück, und er wird nur der Voll- ender der alten, nicht der Gründer der neuen Grammatik. Man betrachte nur die eben angeführten Worte, die zu seinen besten gehören. Wird denselben gemäß nicht auch der verpestende Dunst faulender Sümpfe organisch geboren? Daher kommt es, daß, so wie Becker über das Wort „Organisch“ hinausgeht, er dem Alten und nicht dem Neuen gehört. Er behauptet, die Sprache sei organisch; wie er sie aber darlegt, so treten in ihr nur wesentlich dieselben logisch-mechanischen Verhältnisse her- vor, wie bei den früheren Grammatikern. Dies wollen wir aus- führlicher nachweisen, und zwar eben sowohl in der lexikalischen als in der grammatischen Betrachtung der Sprache.
§. 25. Einheit von Begriff und Laut im Worte.
Es ist nicht bloß die Spaltung in einfache Gegensätze, welche das Unorganische vom Organischen scheidet, sondern auch vorzüglich die Weise, wie die Glieder des Gegensatzes sich in der Einheit zu einander verhalten. Wie verschieden stehen in dieser Beziehung positive und negative Electricität, Nord- und Südpolarität einerseits und Muskel und Nerv, Be- wegung und Empfindung andererseits zu einander! Die Glieder des organischen Verhältnisses — von einem Gegensatze zwischen Muskel und Nerv kann ja gar nicht in dem Sinne die Rede sein, wie zwischen Nord- und Südpolarität; es ist Beckers Will- kür, Muskel und Nerv so einander gegenüber zu stellen, da das Gefäßsystem mit dem Blute und der Lymphe und auch das Knochensysiem zugleich in das Verhältniß eintreten; die Dicho- tomie zerreißt allemal den Organismus — diese Glieder des
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0094"n="56"/>
Dinges dadurch, daß wir sagen, ein Ding werde <hirendition="#g">geboren</hi>.<lb/>
Das Wort wird <hirendition="#g">mit dem Begriffe geboren</hi> und nicht erst<lb/>
für den schon vorhandenen Begriff gefunden.“ Weil man also<lb/>
früher diese nothwendige Geburt der Sprache nicht erkannte,<lb/>
sank man mit dem besten Willen, die φύσις der Sprache zu<lb/>
behaupten, immer in die ϑέσις derselben hinein; und zuletzt war<lb/>
die Frage nur noch, ob diese ϑέσις vom Menschen, oder von<lb/>
Gott ausgegangen sei.</p><lb/><p>Weil aber Becker den Begriff des Organismus nicht in<lb/>
hinlänglicher Bestimmtheit und nach seiner vollen Würde er-<lb/>
faßt, und noch viel weniger das Wesen der Menschheit, die<lb/>
Freiheit, erkannt hat, darum bleibt sein Streben ohne Ver-<lb/>
wirklichung; darum ergeht es ihm ähnlich wie den Alten: auch<lb/>
er sinkt in das Unorganische zurück, und er wird nur der Voll-<lb/>
ender der alten, nicht der Gründer der neuen Grammatik. Man<lb/>
betrachte nur die eben angeführten Worte, die zu seinen besten<lb/>
gehören. Wird denselben gemäß nicht auch der verpestende<lb/>
Dunst faulender Sümpfe organisch geboren? Daher kommt es,<lb/>
daß, so wie Becker über das Wort „Organisch“ hinausgeht, er<lb/>
dem Alten und nicht dem Neuen gehört. Er behauptet, die<lb/>
Sprache sei organisch; wie er sie aber darlegt, so treten in ihr<lb/>
nur wesentlich dieselben logisch-mechanischen Verhältnisse her-<lb/>
vor, wie bei den früheren Grammatikern. Dies wollen wir aus-<lb/>
führlicher nachweisen, und zwar eben sowohl in der lexikalischen<lb/>
als in der grammatischen Betrachtung der Sprache.</p></div><lb/><divn="5"><head>§. 25. Einheit von Begriff und Laut im Worte.</head><lb/><p>Es ist nicht bloß die Spaltung in einfache Gegensätze,<lb/>
welche das Unorganische vom Organischen scheidet, sondern<lb/>
auch vorzüglich die Weise, wie die Glieder des Gegensatzes<lb/>
sich in der Einheit zu einander verhalten. Wie verschieden<lb/>
stehen in dieser Beziehung positive und negative Electricität,<lb/>
Nord- und Südpolarität einerseits und Muskel und Nerv, Be-<lb/>
wegung und Empfindung andererseits zu einander! Die Glieder<lb/>
des organischen Verhältnisses — von einem Gegensatze zwischen<lb/>
Muskel und Nerv kann ja gar nicht in dem Sinne die Rede<lb/>
sein, wie zwischen Nord- und Südpolarität; es ist Beckers Will-<lb/>
kür, Muskel und Nerv so einander gegenüber zu stellen, da das<lb/>
Gefäßsystem mit dem Blute und der Lymphe und auch das<lb/>
Knochensysiem zugleich in das Verhältniß eintreten; die Dicho-<lb/>
tomie zerreißt allemal den Organismus — diese Glieder des<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[56/0094]
Dinges dadurch, daß wir sagen, ein Ding werde geboren.
Das Wort wird mit dem Begriffe geboren und nicht erst
für den schon vorhandenen Begriff gefunden.“ Weil man also
früher diese nothwendige Geburt der Sprache nicht erkannte,
sank man mit dem besten Willen, die φύσις der Sprache zu
behaupten, immer in die ϑέσις derselben hinein; und zuletzt war
die Frage nur noch, ob diese ϑέσις vom Menschen, oder von
Gott ausgegangen sei.
Weil aber Becker den Begriff des Organismus nicht in
hinlänglicher Bestimmtheit und nach seiner vollen Würde er-
faßt, und noch viel weniger das Wesen der Menschheit, die
Freiheit, erkannt hat, darum bleibt sein Streben ohne Ver-
wirklichung; darum ergeht es ihm ähnlich wie den Alten: auch
er sinkt in das Unorganische zurück, und er wird nur der Voll-
ender der alten, nicht der Gründer der neuen Grammatik. Man
betrachte nur die eben angeführten Worte, die zu seinen besten
gehören. Wird denselben gemäß nicht auch der verpestende
Dunst faulender Sümpfe organisch geboren? Daher kommt es,
daß, so wie Becker über das Wort „Organisch“ hinausgeht, er
dem Alten und nicht dem Neuen gehört. Er behauptet, die
Sprache sei organisch; wie er sie aber darlegt, so treten in ihr
nur wesentlich dieselben logisch-mechanischen Verhältnisse her-
vor, wie bei den früheren Grammatikern. Dies wollen wir aus-
führlicher nachweisen, und zwar eben sowohl in der lexikalischen
als in der grammatischen Betrachtung der Sprache.
§. 25. Einheit von Begriff und Laut im Worte.
Es ist nicht bloß die Spaltung in einfache Gegensätze,
welche das Unorganische vom Organischen scheidet, sondern
auch vorzüglich die Weise, wie die Glieder des Gegensatzes
sich in der Einheit zu einander verhalten. Wie verschieden
stehen in dieser Beziehung positive und negative Electricität,
Nord- und Südpolarität einerseits und Muskel und Nerv, Be-
wegung und Empfindung andererseits zu einander! Die Glieder
des organischen Verhältnisses — von einem Gegensatze zwischen
Muskel und Nerv kann ja gar nicht in dem Sinne die Rede
sein, wie zwischen Nord- und Südpolarität; es ist Beckers Will-
kür, Muskel und Nerv so einander gegenüber zu stellen, da das
Gefäßsystem mit dem Blute und der Lymphe und auch das
Knochensysiem zugleich in das Verhältniß eintreten; die Dicho-
tomie zerreißt allemal den Organismus — diese Glieder des
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/94>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.