Wir können uns den Menschen gar nicht anders denken, denn als sprechend und folglich als Glied einer Volksgemein- schaft, und folglich die Menschheit nicht anders, denn als ge- theilt in Völker und Stämme. Jede andere Auffassung, die den Menschen nimmt, wie er vor der Bildung der Völker und Spra- chen war, kann eine nothwendige wissenschaftliche Fiction sein, wie die mathematische Linie, der mathematische Punkt, der Fall im luftleeren Raume; ergreift aber den Menschen keineswegs nach seinem wirklichen Dasein. Die Völkerpsychologie versetzt uns also sogleich mitten in die Wirklichkeit des menschlichen Lebens mit der Geschiedenheit der Menschen nach Völkern und kleinern Gemeinschaften innerhalb dieser.
Jedes Volk nun bildet eine abgeschlossene Einheit, eine in- dividuelle Darstellung des menschlichen Wesens; und alle Indi- viduen desselben Volkes tragen das Gepräge dieser individuellen Natur des Volkes an ihrem Leibe und an ihrer Seele. Diese Gleichheit rührt nach der leiblichen Seite her von der Gleich- heit des Blutes, d. h. der Abstammung, ferner der äußern Ein- flüsse der Natur und der Lebensart; für die Gleichheit der See- lenbildung aber kommt in Betracht das Zusammenleben, d. h. das Zusammendenken. Es wird ursprünglich nur in Gemein- schaft gedacht; jeder knüpft seinen Gedanken an den eines An- dern seines Stammes, und der daraus gebildete neue Gedanke gehört also sogleich dem Andern eben sowohl, als ihm, wie das Kind dem Vater und der Mutter gehört. Der gleiche Leib und die gleichen Eindrücke von außen erzeugen gleiche Gefühle, Neigungen, Begehrungen, und diese wiederum gleiche Gedanken, gleiche Sprache. Den Menschen als nur im Volke lebend den- ken können: das heißt sogleich, ihn nur als gleich mit vielen Individuen --, das heißt, den Begriff Mensch nur als verschie- dene Volkseinheiten, deren jede viele gleichgestimmte Individuen umfaßt, denken können.
§. 141. Producte des Volksgeistes.
Die Einwirkung der körperlichen Einflüsse auf die Seele verursacht gewisse Neigungen, Richtungen, Anlagen, Eigenschaf- ten des Geistes, und zwar bei allen Individuen in gleicher Weise, weswegen sie alle denselben Volksgeist haben. Dieser Volks- geist thut sich kund zunächst in der Sprache, dann in Sitten
§. 140. Der Einzelne und das Volk.
Wir können uns den Menschen gar nicht anders denken, denn als sprechend und folglich als Glied einer Volksgemein- schaft, und folglich die Menschheit nicht anders, denn als ge- theilt in Völker und Stämme. Jede andere Auffassung, die den Menschen nimmt, wie er vor der Bildung der Völker und Spra- chen war, kann eine nothwendige wissenschaftliche Fiction sein, wie die mathematische Linie, der mathematische Punkt, der Fall im luftleeren Raume; ergreift aber den Menschen keineswegs nach seinem wirklichen Dasein. Die Völkerpsychologie versetzt uns also sogleich mitten in die Wirklichkeit des menschlichen Lebens mit der Geschiedenheit der Menschen nach Völkern und kleinern Gemeinschaften innerhalb dieser.
Jedes Volk nun bildet eine abgeschlossene Einheit, eine in- dividuelle Darstellung des menschlichen Wesens; und alle Indi- viduen desselben Volkes tragen das Gepräge dieser individuellen Natur des Volkes an ihrem Leibe und an ihrer Seele. Diese Gleichheit rührt nach der leiblichen Seite her von der Gleich- heit des Blutes, d. h. der Abstammung, ferner der äußern Ein- flüsse der Natur und der Lebensart; für die Gleichheit der See- lenbildung aber kommt in Betracht das Zusammenleben, d. h. das Zusammendenken. Es wird ursprünglich nur in Gemein- schaft gedacht; jeder knüpft seinen Gedanken an den eines An- dern seines Stammes, und der daraus gebildete neue Gedanke gehört also sogleich dem Andern eben sowohl, als ihm, wie das Kind dem Vater und der Mutter gehört. Der gleiche Leib und die gleichen Eindrücke von außen erzeugen gleiche Gefühle, Neigungen, Begehrungen, und diese wiederum gleiche Gedanken, gleiche Sprache. Den Menschen als nur im Volke lebend den- ken können: das heißt sogleich, ihn nur als gleich mit vielen Individuen —, das heißt, den Begriff Mensch nur als verschie- dene Volkseinheiten, deren jede viele gleichgestimmte Individuen umfaßt, denken können.
§. 141. Producte des Volksgeistes.
Die Einwirkung der körperlichen Einflüsse auf die Seele verursacht gewisse Neigungen, Richtungen, Anlagen, Eigenschaf- ten des Geistes, und zwar bei allen Individuen in gleicher Weise, weswegen sie alle denselben Volksgeist haben. Dieser Volks- geist thut sich kund zunächst in der Sprache, dann in Sitten
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§. 140. Der Einzelne und das Volk.
Wir können uns den Menschen gar nicht anders denken,
denn als sprechend und folglich als Glied einer Volksgemein-
schaft, und folglich die Menschheit nicht anders, denn als ge-
theilt in Völker und Stämme. Jede andere Auffassung, die den
Menschen nimmt, wie er vor der Bildung der Völker und Spra-
chen war, kann eine nothwendige wissenschaftliche Fiction sein,
wie die mathematische Linie, der mathematische Punkt, der Fall
im luftleeren Raume; ergreift aber den Menschen keineswegs
nach seinem wirklichen Dasein. Die Völkerpsychologie versetzt
uns also sogleich mitten in die Wirklichkeit des menschlichen
Lebens mit der Geschiedenheit der Menschen nach Völkern und
kleinern Gemeinschaften innerhalb dieser.
Jedes Volk nun bildet eine abgeschlossene Einheit, eine in-
dividuelle Darstellung des menschlichen Wesens; und alle Indi-
viduen desselben Volkes tragen das Gepräge dieser individuellen
Natur des Volkes an ihrem Leibe und an ihrer Seele. Diese
Gleichheit rührt nach der leiblichen Seite her von der Gleich-
heit des Blutes, d. h. der Abstammung, ferner der äußern Ein-
flüsse der Natur und der Lebensart; für die Gleichheit der See-
lenbildung aber kommt in Betracht das Zusammenleben, d. h.
das Zusammendenken. Es wird ursprünglich nur in Gemein-
schaft gedacht; jeder knüpft seinen Gedanken an den eines An-
dern seines Stammes, und der daraus gebildete neue Gedanke
gehört also sogleich dem Andern eben sowohl, als ihm, wie das
Kind dem Vater und der Mutter gehört. Der gleiche Leib und
die gleichen Eindrücke von außen erzeugen gleiche Gefühle,
Neigungen, Begehrungen, und diese wiederum gleiche Gedanken,
gleiche Sprache. Den Menschen als nur im Volke lebend den-
ken können: das heißt sogleich, ihn nur als gleich mit vielen
Individuen —, das heißt, den Begriff Mensch nur als verschie-
dene Volkseinheiten, deren jede viele gleichgestimmte Individuen
umfaßt, denken können.
§. 141. Producte des Volksgeistes.
Die Einwirkung der körperlichen Einflüsse auf die Seele
verursacht gewisse Neigungen, Richtungen, Anlagen, Eigenschaf-
ten des Geistes, und zwar bei allen Individuen in gleicher Weise,
weswegen sie alle denselben Volksgeist haben. Dieser Volks-
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/428>, abgerufen am 03.12.2024.
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