Es hat sich unter dem Einflusse der aristotelischen und auch der stoischen Philosophie eine besondere Disciplin gebil- det: die philosophische Grammatik, welche die Absicht hat, ein für alle Sprachen gültiges Kategorienschema aus der Natur der Sprache und des Gedankens als absolut nothwendig und a priori bestimmbar abzuleiten. Dieses Schema soll ein Skelett sein, das nur mannigfach umkleidet ist. Auch komme es vor, daß dort gewissermaßen ein Knochen sich in zwei getheilt habe, hier zwei zusammengewachsen seien; oder daß der eine sich zu kräf- tig entwickelt habe, und darüber der andere gänzlich verloren gegangen sei. Dieses Schema umfaßt nun sowohl den Wort- schatz, als auch besonders die Grammatik.
Es fragt sich: ist eine solche Disciplin, eine allgemeine Grammatik, berechtigt und möglich? Sehen wir von der angeb- lichen aprioristischen Ableitung ab, die doch nur eine Täuschung ist, so liefern die philosophischen Grammatiken die vorzüglich- sten, wenn nicht alle Kategorien der am höchsten organisirten Sprachen. Dabei hat man jedoch, weil man die logischen For- men in der Sprache suchte, die Bedeutung der grammatischen Formen verkannt. Hiervon aber auch abgesehen, wird also ein Sprachskelett geliefert, welches nur für den einen Sprachstamm, den sanskritischen, wirklich gültig ist, wenigstens ungefähr; denn vollständig paßt es für keine der zu diesem Stamme gehörenden Sprachen. Diese Arbeit könnte, nach richtigen Grundsätzen un- ternommen, sehr bedeutend werden, wenn man nämlich, zunächst rein empirisch verfahrend, die Bedeutung der allen Sprachen des Stammes gemeinsamen Formen entwickelte, darauf dieselbe ratio- nell aus der Eigenthümlichkeit des Sprachstammes begründete; dann aber gerade die Verschiedenheit der einzelnen Sprache her- vorhöbe und aus dem individuellen Formprincipe derselben ab- leitete. Dies würde eine allgemeine und rationelle Grammatik des sanskritischen Sprachstammes geben. Für die übrigen Stämme aber müßten besondere Arbeiten unternommen werden; denn für sie ist das sanskritische Kategorienschema nicht gültig.
Man meint, alle Sprachen erfüllen trotz ihrer Verschieden- heit den Zweck, Ausdruck des Gedankens zu sein. Um diesem Zwecke zu genügen, müssen sie gewisse allgemeine Forderungen
3. Allgemeines Kategorienschema.
§. 136.
Es hat sich unter dem Einflusse der aristotelischen und auch der stoischen Philosophie eine besondere Disciplin gebil- det: die philosophische Grammatik, welche die Absicht hat, ein für alle Sprachen gültiges Kategorienschema aus der Natur der Sprache und des Gedankens als absolut nothwendig und a priori bestimmbar abzuleiten. Dieses Schema soll ein Skelett sein, das nur mannigfach umkleidet ist. Auch komme es vor, daß dort gewissermaßen ein Knochen sich in zwei getheilt habe, hier zwei zusammengewachsen seien; oder daß der eine sich zu kräf- tig entwickelt habe, und darüber der andere gänzlich verloren gegangen sei. Dieses Schema umfaßt nun sowohl den Wort- schatz, als auch besonders die Grammatik.
Es fragt sich: ist eine solche Disciplin, eine allgemeine Grammatik, berechtigt und möglich? Sehen wir von der angeb- lichen aprioristischen Ableitung ab, die doch nur eine Täuschung ist, so liefern die philosophischen Grammatiken die vorzüglich- sten, wenn nicht alle Kategorien der am höchsten organisirten Sprachen. Dabei hat man jedoch, weil man die logischen For- men in der Sprache suchte, die Bedeutung der grammatischen Formen verkannt. Hiervon aber auch abgesehen, wird also ein Sprachskelett geliefert, welches nur für den einen Sprachstamm, den sanskritischen, wirklich gültig ist, wenigstens ungefähr; denn vollständig paßt es für keine der zu diesem Stamme gehörenden Sprachen. Diese Arbeit könnte, nach richtigen Grundsätzen un- ternommen, sehr bedeutend werden, wenn man nämlich, zunächst rein empirisch verfahrend, die Bedeutung der allen Sprachen des Stammes gemeinsamen Formen entwickelte, darauf dieselbe ratio- nell aus der Eigenthümlichkeit des Sprachstammes begründete; dann aber gerade die Verschiedenheit der einzelnen Sprache her- vorhöbe und aus dem individuellen Formprincipe derselben ab- leitete. Dies würde eine allgemeine und rationelle Grammatik des sanskritischen Sprachstammes geben. Für die übrigen Stämme aber müßten besondere Arbeiten unternommen werden; denn für sie ist das sanskritische Kategorienschema nicht gültig.
Man meint, alle Sprachen erfüllen trotz ihrer Verschieden- heit den Zweck, Ausdruck des Gedankens zu sein. Um diesem Zwecke zu genügen, müssen sie gewisse allgemeine Forderungen
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3. Allgemeines Kategorienschema.
§. 136.
Es hat sich unter dem Einflusse der aristotelischen und
auch der stoischen Philosophie eine besondere Disciplin gebil-
det: die philosophische Grammatik, welche die Absicht hat, ein
für alle Sprachen gültiges Kategorienschema aus der Natur der
Sprache und des Gedankens als absolut nothwendig und a priori
bestimmbar abzuleiten. Dieses Schema soll ein Skelett sein, das
nur mannigfach umkleidet ist. Auch komme es vor, daß dort
gewissermaßen ein Knochen sich in zwei getheilt habe, hier
zwei zusammengewachsen seien; oder daß der eine sich zu kräf-
tig entwickelt habe, und darüber der andere gänzlich verloren
gegangen sei. Dieses Schema umfaßt nun sowohl den Wort-
schatz, als auch besonders die Grammatik.
Es fragt sich: ist eine solche Disciplin, eine allgemeine
Grammatik, berechtigt und möglich? Sehen wir von der angeb-
lichen aprioristischen Ableitung ab, die doch nur eine Täuschung
ist, so liefern die philosophischen Grammatiken die vorzüglich-
sten, wenn nicht alle Kategorien der am höchsten organisirten
Sprachen. Dabei hat man jedoch, weil man die logischen For-
men in der Sprache suchte, die Bedeutung der grammatischen
Formen verkannt. Hiervon aber auch abgesehen, wird also ein
Sprachskelett geliefert, welches nur für den einen Sprachstamm,
den sanskritischen, wirklich gültig ist, wenigstens ungefähr; denn
vollständig paßt es für keine der zu diesem Stamme gehörenden
Sprachen. Diese Arbeit könnte, nach richtigen Grundsätzen un-
ternommen, sehr bedeutend werden, wenn man nämlich, zunächst
rein empirisch verfahrend, die Bedeutung der allen Sprachen des
Stammes gemeinsamen Formen entwickelte, darauf dieselbe ratio-
nell aus der Eigenthümlichkeit des Sprachstammes begründete;
dann aber gerade die Verschiedenheit der einzelnen Sprache her-
vorhöbe und aus dem individuellen Formprincipe derselben ab-
leitete. Dies würde eine allgemeine und rationelle Grammatik
des sanskritischen Sprachstammes geben. Für die übrigen Stämme
aber müßten besondere Arbeiten unternommen werden; denn für
sie ist das sanskritische Kategorienschema nicht gültig.
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/420>, abgerufen am 21.11.2024.
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