2. Organismus, Princip und Individualität der Sprache.
§. 135.
Man wird uns fragen, ob wir die Sprache einen Organis- mus nennen wollen? -- Was soll uns aber, frage ich, ein Wort, das auf seinem einheimischen Boden niemals einen klaren Sinn gehabt hat und schon seit langer Zeit alle Bedeutung mehr und mehr zu verlieren droht? Doch sehen wir davon ab, welchen Sinn kann für uns das Wort organisch haben? Es kann nicht bestehen ohne seinen Gegensatz, das Unorganische; und wo läge für die Sprache ein solcher Gegensatz?
Das Wort organisch könnte für uns nur einen übertragenen Sinn haben; denn die Sprache gehört wesentlich dem Geiste, ist ein geistiges Erzeugniß. Eine rein natürliche Bedeutung könnte es sicherlich nicht haben. Soll es uns nun andeuten, daß der Ursprung der Sprache in dem nothwendigen Gange der geistigen Entwickelung liegt? und noch specieller, im Zu- sammenhange von Seele und Leib? Man gestatte mir die Hoff- nung oder, wenn man will, die Einbildung, daß ich diese Punkte viel bestimmter erfaßt und gründlicher erörtert habe, als das Wort organisch auszudrücken vermag, und sie zugleich von al- len Schiefheiten und Uebertreibungen gereinigt habe, zu denen dasselbe veranlaßt hatte. Dies Wort hat seine Epoche aus- gelebt.
In einer andern Beziehung könnte uns das Wort Organis- mus wichtiger werden, als es für Becker war, der die Indivi- dualität der Sprachen nicht zu erfassen vermochte, weil er nicht einmal ihre Verschiedenheit begriff. Indem wir nun hier von der Verschiedenheit der Sprachen reden, müssen wir eben be- merken, daß jede Sprache als eine vom instinctiven Selbst- bewußtsein gebildete Anschauung der äußern und innern Welt des Menschen anzusehen ist. Dieser instinc- tiven Welt- und Selbstanschauung liegt aber ein individuelles Princip zu Grunde; sie ist ein zusammenhängendes System, des- sen Theile alle einen gemeinsamen Typus tragen, der ihnen von dem Principe aufgeprägt ist, dessen Entwickelung sie sind. Durch diesen gemeinsamen Charakter geben sie sich kund als aus dem- selben Quell entsprungen und zu demselben Ziele wirkend, und dieser Quell und dieses Ziel ist eben ihr Princip. Diese in je- der Sprache liegende Einheit, welche daher rührt, daß das Ganze
2. Organismus, Princip und Individualität der Sprache.
§. 135.
Man wird uns fragen, ob wir die Sprache einen Organis- mus nennen wollen? — Was soll uns aber, frage ich, ein Wort, das auf seinem einheimischen Boden niemals einen klaren Sinn gehabt hat und schon seit langer Zeit alle Bedeutung mehr und mehr zu verlieren droht? Doch sehen wir davon ab, welchen Sinn kann für uns das Wort organisch haben? Es kann nicht bestehen ohne seinen Gegensatz, das Unorganische; und wo läge für die Sprache ein solcher Gegensatz?
Das Wort organisch könnte für uns nur einen übertragenen Sinn haben; denn die Sprache gehört wesentlich dem Geiste, ist ein geistiges Erzeugniß. Eine rein natürliche Bedeutung könnte es sicherlich nicht haben. Soll es uns nun andeuten, daß der Ursprung der Sprache in dem nothwendigen Gange der geistigen Entwickelung liegt? und noch specieller, im Zu- sammenhange von Seele und Leib? Man gestatte mir die Hoff- nung oder, wenn man will, die Einbildung, daß ich diese Punkte viel bestimmter erfaßt und gründlicher erörtert habe, als das Wort organisch auszudrücken vermag, und sie zugleich von al- len Schiefheiten und Uebertreibungen gereinigt habe, zu denen dasselbe veranlaßt hatte. Dies Wort hat seine Epoche aus- gelebt.
In einer andern Beziehung könnte uns das Wort Organis- mus wichtiger werden, als es für Becker war, der die Indivi- dualität der Sprachen nicht zu erfassen vermochte, weil er nicht einmal ihre Verschiedenheit begriff. Indem wir nun hier von der Verschiedenheit der Sprachen reden, müssen wir eben be- merken, daß jede Sprache als eine vom instinctiven Selbst- bewußtsein gebildete Anschauung der äußern und innern Welt des Menschen anzusehen ist. Dieser instinc- tiven Welt- und Selbstanschauung liegt aber ein individuelles Princip zu Grunde; sie ist ein zusammenhängendes System, des- sen Theile alle einen gemeinsamen Typus tragen, der ihnen von dem Principe aufgeprägt ist, dessen Entwickelung sie sind. Durch diesen gemeinsamen Charakter geben sie sich kund als aus dem- selben Quell entsprungen und zu demselben Ziele wirkend, und dieser Quell und dieses Ziel ist eben ihr Princip. Diese in je- der Sprache liegende Einheit, welche daher rührt, daß das Ganze
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2. Organismus, Princip und Individualität der Sprache.
§. 135.
Man wird uns fragen, ob wir die Sprache einen Organis-
mus nennen wollen? — Was soll uns aber, frage ich, ein Wort,
das auf seinem einheimischen Boden niemals einen klaren Sinn
gehabt hat und schon seit langer Zeit alle Bedeutung mehr und
mehr zu verlieren droht? Doch sehen wir davon ab, welchen
Sinn kann für uns das Wort organisch haben? Es kann nicht
bestehen ohne seinen Gegensatz, das Unorganische; und wo
läge für die Sprache ein solcher Gegensatz?
Das Wort organisch könnte für uns nur einen übertragenen
Sinn haben; denn die Sprache gehört wesentlich dem Geiste,
ist ein geistiges Erzeugniß. Eine rein natürliche Bedeutung
könnte es sicherlich nicht haben. Soll es uns nun andeuten,
daß der Ursprung der Sprache in dem nothwendigen Gange
der geistigen Entwickelung liegt? und noch specieller, im Zu-
sammenhange von Seele und Leib? Man gestatte mir die Hoff-
nung oder, wenn man will, die Einbildung, daß ich diese Punkte
viel bestimmter erfaßt und gründlicher erörtert habe, als das
Wort organisch auszudrücken vermag, und sie zugleich von al-
len Schiefheiten und Uebertreibungen gereinigt habe, zu denen
dasselbe veranlaßt hatte. Dies Wort hat seine Epoche aus-
gelebt.
In einer andern Beziehung könnte uns das Wort Organis-
mus wichtiger werden, als es für Becker war, der die Indivi-
dualität der Sprachen nicht zu erfassen vermochte, weil er nicht
einmal ihre Verschiedenheit begriff. Indem wir nun hier von
der Verschiedenheit der Sprachen reden, müssen wir eben be-
merken, daß jede Sprache als eine vom instinctiven Selbst-
bewußtsein gebildete Anschauung der äußern und
innern Welt des Menschen anzusehen ist. Dieser instinc-
tiven Welt- und Selbstanschauung liegt aber ein individuelles
Princip zu Grunde; sie ist ein zusammenhängendes System, des-
sen Theile alle einen gemeinsamen Typus tragen, der ihnen von
dem Principe aufgeprägt ist, dessen Entwickelung sie sind. Durch
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/417>, abgerufen am 22.12.2024.
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