den. Bei letzterer Gelegenheit war es schon nicht mehr mög- lich, von der Verschiedenheit der Sprachen abzusehen. Die Na- tur dieser Verschiedenheit haben wir uns jetzt klarer zu machen.
1. Grund der Sprachverschiedenheit.
Zuerst fragt es sich: worin liegt die Verschiedenheit der Sprachen? und wie ist sie möglich? bei der Einheit der mensch- lichen Natur und des menschlichen Geistes!
Sie liegt sowohl in den einzelnen Lauten und der Weise ihrer Aneinanderreihung, also in der Lautform an sich, als auch in der innern Sprachform an sich, und auch in der Verbindung dieser mit jener, so daß dieselbe Vorstellung in den verschie- denen Sprachen verschiedene lautliche Bezeichnung findet.
§. 132. Verschiedenheit in der Lautseite der Sprachen.
Was zuerst die verschiedene Erzeugung der Laute betrifft, so ist offenbar, daß die eine Sprache Laute hat, die der andern ganz fehlen, und umgekehrt. Streng genommen aber läßt sich geradezu behaupten, daß keine Sprache auch nur einen Laut mit der andern wirklich und vollkommen gemein hat. Man ver- gleiche z. B. das französische und englische Alphabet: jeder Consonant und jeder Vocal der einen Sprache lautet anders, als der entsprechende der andern. Valentin (Grundriß der Physio- logie des Menschen, §. 1428) sagt: "Die physiologische Prüfung der einzelnen Laute in den verschiedenen Sprachen und Dialek- ten kann viele Fragen der vergleichenden Sprachkunde aufklä- ren ... Jeder Dialekt beruht auf einer eigenthümlichen Einstel- lung, auf einer besondern Erziehung der Sprachwerkzeuge. Es erklärt sich hieraus, weshalb gewisse Reihen von Lauten eigen- thümlicher klingen oder nicht, warum eine bestimmte fremde Sprache von den Angehörigen des einen Landes leichter und besser, als von denen eines andern gesprochen wird, aus wel- chem Grunde einzelne Accente der Muttersprache nachklingen. Solche physiologische Betrachtungen erläutern häufig die Schick- sale, denen dasselbe Wurzelwort im Laufe der Zeiten oder in verschiedenen verwandten Sprachen unterworfen wurde, und selbst manche Verhältnisse der Quantität oder Metrik in über- raschender Weise."
Ich sollte meinen, nicht bloß die "eigenthümliche Einstel- lung der Sprachwerkzeuge", sondern auch ihre Form müsse bei
den. Bei letzterer Gelegenheit war es schon nicht mehr mög- lich, von der Verschiedenheit der Sprachen abzusehen. Die Na- tur dieser Verschiedenheit haben wir uns jetzt klarer zu machen.
1. Grund der Sprachverschiedenheit.
Zuerst fragt es sich: worin liegt die Verschiedenheit der Sprachen? und wie ist sie möglich? bei der Einheit der mensch- lichen Natur und des menschlichen Geistes!
Sie liegt sowohl in den einzelnen Lauten und der Weise ihrer Aneinanderreihung, also in der Lautform an sich, als auch in der innern Sprachform an sich, und auch in der Verbindung dieser mit jener, so daß dieselbe Vorstellung in den verschie- denen Sprachen verschiedene lautliche Bezeichnung findet.
§. 132. Verschiedenheit in der Lautseite der Sprachen.
Was zuerst die verschiedene Erzeugung der Laute betrifft, so ist offenbar, daß die eine Sprache Laute hat, die der andern ganz fehlen, und umgekehrt. Streng genommen aber läßt sich geradezu behaupten, daß keine Sprache auch nur einen Laut mit der andern wirklich und vollkommen gemein hat. Man ver- gleiche z. B. das französische und englische Alphabet: jeder Consonant und jeder Vocal der einen Sprache lautet anders, als der entsprechende der andern. Valentin (Grundriß der Physio- logie des Menschen, §. 1428) sagt: „Die physiologische Prüfung der einzelnen Laute in den verschiedenen Sprachen und Dialek- ten kann viele Fragen der vergleichenden Sprachkunde aufklä- ren … Jeder Dialekt beruht auf einer eigenthümlichen Einstel- lung, auf einer besondern Erziehung der Sprachwerkzeuge. Es erklärt sich hieraus, weshalb gewisse Reihen von Lauten eigen- thümlicher klingen oder nicht, warum eine bestimmte fremde Sprache von den Angehörigen des einen Landes leichter und besser, als von denen eines andern gesprochen wird, aus wel- chem Grunde einzelne Accente der Muttersprache nachklingen. Solche physiologische Betrachtungen erläutern häufig die Schick- sale, denen dasselbe Wurzelwort im Laufe der Zeiten oder in verschiedenen verwandten Sprachen unterworfen wurde, und selbst manche Verhältnisse der Quantität oder Metrik in über- raschender Weise.“
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den. Bei letzterer Gelegenheit war es schon nicht mehr mög-
lich, von der Verschiedenheit der Sprachen abzusehen. Die Na-
tur dieser Verschiedenheit haben wir uns jetzt klarer zu machen.
1. Grund der Sprachverschiedenheit.
Zuerst fragt es sich: worin liegt die Verschiedenheit der
Sprachen? und wie ist sie möglich? bei der Einheit der mensch-
lichen Natur und des menschlichen Geistes!
Sie liegt sowohl in den einzelnen Lauten und der Weise
ihrer Aneinanderreihung, also in der Lautform an sich, als auch
in der innern Sprachform an sich, und auch in der Verbindung
dieser mit jener, so daß dieselbe Vorstellung in den verschie-
denen Sprachen verschiedene lautliche Bezeichnung findet.
§. 132. Verschiedenheit in der Lautseite der Sprachen.
Was zuerst die verschiedene Erzeugung der Laute betrifft,
so ist offenbar, daß die eine Sprache Laute hat, die der andern
ganz fehlen, und umgekehrt. Streng genommen aber läßt sich
geradezu behaupten, daß keine Sprache auch nur einen Laut
mit der andern wirklich und vollkommen gemein hat. Man ver-
gleiche z. B. das französische und englische Alphabet: jeder
Consonant und jeder Vocal der einen Sprache lautet anders, als
der entsprechende der andern. Valentin (Grundriß der Physio-
logie des Menschen, §. 1428) sagt: „Die physiologische Prüfung
der einzelnen Laute in den verschiedenen Sprachen und Dialek-
ten kann viele Fragen der vergleichenden Sprachkunde aufklä-
ren … Jeder Dialekt beruht auf einer eigenthümlichen Einstel-
lung, auf einer besondern Erziehung der Sprachwerkzeuge. Es
erklärt sich hieraus, weshalb gewisse Reihen von Lauten eigen-
thümlicher klingen oder nicht, warum eine bestimmte fremde
Sprache von den Angehörigen des einen Landes leichter und
besser, als von denen eines andern gesprochen wird, aus wel-
chem Grunde einzelne Accente der Muttersprache nachklingen.
Solche physiologische Betrachtungen erläutern häufig die Schick-
sale, denen dasselbe Wurzelwort im Laufe der Zeiten oder in
verschiedenen verwandten Sprachen unterworfen wurde, und
selbst manche Verhältnisse der Quantität oder Metrik in über-
raschender Weise.“
Ich sollte meinen, nicht bloß die „eigenthümliche Einstel-
lung der Sprachwerkzeuge“, sondern auch ihre Form müsse bei
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/412>, abgerufen am 22.12.2024.
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