ein drittes Stoffelement der Anschauung vorstellt neben den bei- den Dingen, welche zwei andere Stoffelemente der Anschauung sind. So giebt es also Sprachen, welche die Anschauung "A hinter B" als drei Stoffelemente darstellen: "A Rücken B", oder in welcher Ordnung sie nun diese Elemente aufstellen mögen. Solche Sprachen stellen die gegebene Form als Stoff dar, und sind also formlose Sprachen.
§. 129. Die alten und die neuern Formsprachen.
Wie sehr sich aber abstracte Wörter den Formelementen nähern, das zeigen die modernen sanskritischen Sprachen. Denn unser deutsches "ich liebe", sowie j'aime, I love u. s. w. sind reine Formen, weil bei uns mit der fortschreitend abstractern Ausbildung der Sprache die Pronomina endlich so sehr jeden Stoff ihrer Bedeutung verloren haben, daß sie recht gut die Per- sonalendungen verstärken oder völlig ersetzen konnten, sobald die Formendungen der Wörter dem instinctiven Selbstbewußt- sein nicht mehr klar genug waren. Dieses setzte also an die Stelle der abgefallenen oder abgeschliffenen Personalendungen die ausgehöhlten Pronomina. Und so sind denn unsere heutigen Pronomina Formelemente, wenn nicht die hervorgehobene Be- deutung ihnen ihren ursprünglichen materialen Werth zurück- giebt. "Ich liebe den Wein" hat kein Subject; "ich liebe das Wasser" hat eins. Vergl. Humboldt Einl. S. 290 (oder CCCVI.).
Unsere Präpositionen endlich sind Formwörter, selbst wenn sie ursprünglich Substantive waren; denn sie sind durch Ab- straction zu Präpositionen geworden, gerade wie die Pronomina zu Personalzeichen.
Der Unterschied der modernen sanskritischen Sprachen ge- gen die alten beruht vorzüglich auf dem Ersatz der Formen durch Formwörter. Diese Erscheinung ist längst beachtet und vielfach besprochen worden, vielleicht aber doch noch nicht in ihrem ganzen Umfange gewürdigt. Ich meine nämlich, daß hierher auch diejenigen Fälle zu zählen sind, wo z. B. im Grie- chischen ein bloßer Artikel, ein Pronomen demonstrativum, ein Adjectivum genügt, während wir immer noch ein abstractes Sub- stantivum hinzufügen müssen. Man nehme z. B. den Anfang der Demosthenischen Rede De corona. Dort liest man: ... eukhomai ... oper esti malisth' uper umon ... touto (einen sol-
ein drittes Stoffelement der Anschauung vorstellt neben den bei- den Dingen, welche zwei andere Stoffelemente der Anschauung sind. So giebt es also Sprachen, welche die Anschauung „A hinter B“ als drei Stoffelemente darstellen: „A Rücken B“, oder in welcher Ordnung sie nun diese Elemente aufstellen mögen. Solche Sprachen stellen die gegebene Form als Stoff dar, und sind also formlose Sprachen.
§. 129. Die alten und die neuern Formsprachen.
Wie sehr sich aber abstracte Wörter den Formelementen nähern, das zeigen die modernen sanskritischen Sprachen. Denn unser deutsches „ich liebe“, sowie j’aime, I love u. s. w. sind reine Formen, weil bei uns mit der fortschreitend abstractern Ausbildung der Sprache die Pronomina endlich so sehr jeden Stoff ihrer Bedeutung verloren haben, daß sie recht gut die Per- sonalendungen verstärken oder völlig ersetzen konnten, sobald die Formendungen der Wörter dem instinctiven Selbstbewußt- sein nicht mehr klar genug waren. Dieses setzte also an die Stelle der abgefallenen oder abgeschliffenen Personalendungen die ausgehöhlten Pronomina. Und so sind denn unsere heutigen Pronomina Formelemente, wenn nicht die hervorgehobene Be- deutung ihnen ihren ursprünglichen materialen Werth zurück- giebt. „Ich liebe den Wein“ hat kein Subject; „ich liebe das Wasser“ hat eins. Vergl. Humboldt Einl. S. 290 (oder CCCVI.).
Unsere Präpositionen endlich sind Formwörter, selbst wenn sie ursprünglich Substantive waren; denn sie sind durch Ab- straction zu Präpositionen geworden, gerade wie die Pronomina zu Personalzeichen.
Der Unterschied der modernen sanskritischen Sprachen ge- gen die alten beruht vorzüglich auf dem Ersatz der Formen durch Formwörter. Diese Erscheinung ist längst beachtet und vielfach besprochen worden, vielleicht aber doch noch nicht in ihrem ganzen Umfange gewürdigt. Ich meine nämlich, daß hierher auch diejenigen Fälle zu zählen sind, wo z. B. im Grie- chischen ein bloßer Artikel, ein Pronomen demonstrativum, ein Adjectivum genügt, während wir immer noch ein abstractes Sub- stantivum hinzufügen müssen. Man nehme z. B. den Anfang der Demosthenischen Rede De corona. Dort liest man: … εὔχομαι … ὅπεϱ ἐστὶ μάλισϑ᾽ ὑπὲϱ ὑμῶν … τοῦτο (einen sol-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><pbfacs="#f0404"n="366"/>
ein drittes Stoffelement der Anschauung vorstellt neben den bei-<lb/>
den Dingen, welche zwei andere Stoffelemente der Anschauung<lb/>
sind. So giebt es also Sprachen, welche die Anschauung „<hirendition="#i">A<lb/>
hinter B</hi>“ als drei Stoffelemente darstellen: „<hirendition="#i">A Rücken B</hi>“, oder<lb/>
in welcher Ordnung sie nun diese Elemente aufstellen mögen.<lb/>
Solche Sprachen stellen die gegebene Form als Stoff dar, und<lb/>
sind also <hirendition="#g">formlose Sprachen</hi>.</p></div><lb/><divn="6"><head>§. 129. Die alten und die neuern Formsprachen.</head><lb/><p>Wie sehr sich aber abstracte Wörter den Formelementen<lb/>
nähern, das zeigen die modernen sanskritischen Sprachen. Denn<lb/>
unser deutsches „<hirendition="#i">ich liebe</hi>“, sowie j’aime, I love u. s. w. sind<lb/>
reine Formen, weil <hirendition="#g">bei uns</hi> mit der fortschreitend abstractern<lb/>
Ausbildung der Sprache die Pronomina endlich so sehr jeden<lb/>
Stoff ihrer Bedeutung verloren haben, daß sie recht gut die Per-<lb/>
sonalendungen verstärken oder völlig ersetzen konnten, sobald<lb/>
die Formendungen der Wörter dem instinctiven Selbstbewußt-<lb/>
sein nicht mehr klar genug waren. Dieses setzte also an die<lb/>
Stelle der abgefallenen oder abgeschliffenen Personalendungen<lb/>
die ausgehöhlten Pronomina. Und so sind denn unsere heutigen<lb/>
Pronomina Formelemente, wenn nicht die hervorgehobene Be-<lb/>
deutung ihnen ihren ursprünglichen materialen Werth zurück-<lb/>
giebt. „Ich liebe den <hirendition="#g">Wein</hi>“ hat kein Subject; „<hirendition="#g">ich</hi> liebe<lb/>
das Wasser“ hat eins. Vergl. Humboldt Einl. S. 290 (oder<lb/>
CCCVI.).</p><lb/><p>Unsere Präpositionen endlich sind Formwörter, selbst wenn<lb/>
sie ursprünglich Substantive waren; denn sie sind durch Ab-<lb/>
straction zu Präpositionen geworden, gerade wie die Pronomina<lb/>
zu Personalzeichen.</p><lb/><p>Der Unterschied der modernen sanskritischen Sprachen ge-<lb/>
gen die alten beruht vorzüglich auf dem Ersatz der Formen<lb/>
durch Formwörter. Diese Erscheinung ist längst beachtet und<lb/>
vielfach besprochen worden, vielleicht aber doch noch nicht in<lb/>
ihrem ganzen Umfange gewürdigt. Ich meine nämlich, daß<lb/>
hierher auch diejenigen Fälle zu zählen sind, wo z. B. im Grie-<lb/>
chischen ein bloßer Artikel, ein Pronomen demonstrativum, ein<lb/>
Adjectivum genügt, während wir immer noch ein abstractes Sub-<lb/>
stantivum hinzufügen müssen. Man nehme z. B. den Anfang<lb/>
der Demosthenischen Rede <hirendition="#g">De corona</hi>. Dort liest man: …<lb/>εὔχομαι…ὅπεϱἐστὶμάλισϑ᾽ὑπὲϱὑμῶν…τοῦτο (einen sol-<lb/></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[366/0404]
ein drittes Stoffelement der Anschauung vorstellt neben den bei-
den Dingen, welche zwei andere Stoffelemente der Anschauung
sind. So giebt es also Sprachen, welche die Anschauung „A
hinter B“ als drei Stoffelemente darstellen: „A Rücken B“, oder
in welcher Ordnung sie nun diese Elemente aufstellen mögen.
Solche Sprachen stellen die gegebene Form als Stoff dar, und
sind also formlose Sprachen.
§. 129. Die alten und die neuern Formsprachen.
Wie sehr sich aber abstracte Wörter den Formelementen
nähern, das zeigen die modernen sanskritischen Sprachen. Denn
unser deutsches „ich liebe“, sowie j’aime, I love u. s. w. sind
reine Formen, weil bei uns mit der fortschreitend abstractern
Ausbildung der Sprache die Pronomina endlich so sehr jeden
Stoff ihrer Bedeutung verloren haben, daß sie recht gut die Per-
sonalendungen verstärken oder völlig ersetzen konnten, sobald
die Formendungen der Wörter dem instinctiven Selbstbewußt-
sein nicht mehr klar genug waren. Dieses setzte also an die
Stelle der abgefallenen oder abgeschliffenen Personalendungen
die ausgehöhlten Pronomina. Und so sind denn unsere heutigen
Pronomina Formelemente, wenn nicht die hervorgehobene Be-
deutung ihnen ihren ursprünglichen materialen Werth zurück-
giebt. „Ich liebe den Wein“ hat kein Subject; „ich liebe
das Wasser“ hat eins. Vergl. Humboldt Einl. S. 290 (oder
CCCVI.).
Unsere Präpositionen endlich sind Formwörter, selbst wenn
sie ursprünglich Substantive waren; denn sie sind durch Ab-
straction zu Präpositionen geworden, gerade wie die Pronomina
zu Personalzeichen.
Der Unterschied der modernen sanskritischen Sprachen ge-
gen die alten beruht vorzüglich auf dem Ersatz der Formen
durch Formwörter. Diese Erscheinung ist längst beachtet und
vielfach besprochen worden, vielleicht aber doch noch nicht in
ihrem ganzen Umfange gewürdigt. Ich meine nämlich, daß
hierher auch diejenigen Fälle zu zählen sind, wo z. B. im Grie-
chischen ein bloßer Artikel, ein Pronomen demonstrativum, ein
Adjectivum genügt, während wir immer noch ein abstractes Sub-
stantivum hinzufügen müssen. Man nehme z. B. den Anfang
der Demosthenischen Rede De corona. Dort liest man: …
εὔχομαι … ὅπεϱ ἐστὶ μάλισϑ᾽ ὑπὲϱ ὑμῶν … τοῦτο (einen sol-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/404>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.