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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Dem Denken fehle das Lauten niemals. Denn -- und diese
Thatsache ist richtig -- selbst unser stilles, lautloses Denken ist
ein mindestens beabsichtigtes Sprechen; die innere Ansicht der
Articulation begleitet dasselbe allemal. Stilles Denken ist gedachtes
Sprechen, Sprechen nur gesprochenes Denken. Ich habe an mir
eine Beobachtung gemacht, die gewiß auch jeder andere an sich
schon gemacht hat oder machen kann. Wenn ich nämlich aus-
wendig gelernte Reden und Gedichte schweigend in Gedanken
wiederholte, wobei allerdings auch eine gewisse Aufmerksamkeit
auf das äußere, wiewohl unterdrückte, Element des Vortrags
gerichtet war, so konnte ich sehr deutlich ein leises Zucken in
der Zunge, ein schwaches, oft nur beabsichtigtes, Nachahmen
aller Articulationen an mir bemerken. Auch Herbart sagt (Be-
merkungen über die Bildung und Entwickelung der Vorstellungs-
reihen, S. W. VII. S. 320): "Das stille Denken ist großentheils
merklich ein zurückgehaltenes Sprechen; und man hat allen
Grund anzunehmen, daß wirklich ein Handeln dabei vorgeht,
welches für die Seele schon ein äußeres Handeln ist; nämlich
ein Anregen der Nerven, welche die Sprachorgane regieren; nur
nicht stark genug, um die Muskeln zu bewegen."

§. 62. Ablösbarkeit des Denkens vom Sprechen, erwiesen durch Thatsachen.

Dies halten wir für richtig. Wenn aber hieraus die Unzer-
trennlichkeit von Sprechen und Denken folgen mag, so folgt
daraus noch nicht ihre Einheit und Selbigkeit. Ja man darf
daraus noch nicht einmal ihre Unzertrennlichkeit schließen; denn
andere, nicht minder sichere Thatsachen, oder noch sichrere,
beweisen die Trennbarkeit.

Das Thier denkt ohne zu sprechen. Wir werden hierauf
zurückkommen. Nur kann es uns nicht einfallen, beweisen zu
wollen, daß das Thier denkt -- es wäre überflüssige Mühe --,
noch daß es nicht spricht -- es wäre verschwendete Mühe.
Wir wollen aber schon hier bemerken, daß das Thier nicht bloß
empirisch denkt, in rein sinnlicher Gegenwart lebt; sondern es
hat Gedächtniß, erkennt wieder -- und hierin liegt ein Keim
zum Bewußtsein der Vergangenheit --, ja noch mehr, es ver-
muthet und erwartet die Zukunft, berechnet sie und macht über-
haupt Schlüsse: das ist sogar schon ein apriorisches Element.

"Das sind Thiere; aber der Mensch!" -- Nun, auch er
denkt in manchen Fällen ohne Sprache. Der Taubstumme denkt
oft verständiger als mancher Redende; er ist sogar meist schlau,

Dem Denken fehle das Lauten niemals. Denn — und diese
Thatsache ist richtig — selbst unser stilles, lautloses Denken ist
ein mindestens beabsichtigtes Sprechen; die innere Ansicht der
Articulation begleitet dasselbe allemal. Stilles Denken ist gedachtes
Sprechen, Sprechen nur gesprochenes Denken. Ich habe an mir
eine Beobachtung gemacht, die gewiß auch jeder andere an sich
schon gemacht hat oder machen kann. Wenn ich nämlich aus-
wendig gelernte Reden und Gedichte schweigend in Gedanken
wiederholte, wobei allerdings auch eine gewisse Aufmerksamkeit
auf das äußere, wiewohl unterdrückte, Element des Vortrags
gerichtet war, so konnte ich sehr deutlich ein leises Zucken in
der Zunge, ein schwaches, oft nur beabsichtigtes, Nachahmen
aller Articulationen an mir bemerken. Auch Herbart sagt (Be-
merkungen über die Bildung und Entwickelung der Vorstellungs-
reihen, S. W. VII. S. 320): „Das stille Denken ist großentheils
merklich ein zurückgehaltenes Sprechen; und man hat allen
Grund anzunehmen, daß wirklich ein Handeln dabei vorgeht,
welches für die Seele schon ein äußeres Handeln ist; nämlich
ein Anregen der Nerven, welche die Sprachorgane regieren; nur
nicht stark genug, um die Muskeln zu bewegen.“

§. 62. Ablösbarkeit des Denkens vom Sprechen, erwiesen durch Thatsachen.

Dies halten wir für richtig. Wenn aber hieraus die Unzer-
trennlichkeit von Sprechen und Denken folgen mag, so folgt
daraus noch nicht ihre Einheit und Selbigkeit. Ja man darf
daraus noch nicht einmal ihre Unzertrennlichkeit schließen; denn
andere, nicht minder sichere Thatsachen, oder noch sichrere,
beweisen die Trennbarkeit.

Das Thier denkt ohne zu sprechen. Wir werden hierauf
zurückkommen. Nur kann es uns nicht einfallen, beweisen zu
wollen, daß das Thier denkt — es wäre überflüssige Mühe —,
noch daß es nicht spricht — es wäre verschwendete Mühe.
Wir wollen aber schon hier bemerken, daß das Thier nicht bloß
empirisch denkt, in rein sinnlicher Gegenwart lebt; sondern es
hat Gedächtniß, erkennt wieder — und hierin liegt ein Keim
zum Bewußtsein der Vergangenheit —, ja noch mehr, es ver-
muthet und erwartet die Zukunft, berechnet sie und macht über-
haupt Schlüsse: das ist sogar schon ein apriorisches Element.

„Das sind Thiere; aber der Mensch!“ — Nun, auch er
denkt in manchen Fällen ohne Sprache. Der Taubstumme denkt
oft verständiger als mancher Redende; er ist sogar meist schlau,

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[153/0191] Dem Denken fehle das Lauten niemals. Denn — und diese Thatsache ist richtig — selbst unser stilles, lautloses Denken ist ein mindestens beabsichtigtes Sprechen; die innere Ansicht der Articulation begleitet dasselbe allemal. Stilles Denken ist gedachtes Sprechen, Sprechen nur gesprochenes Denken. Ich habe an mir eine Beobachtung gemacht, die gewiß auch jeder andere an sich schon gemacht hat oder machen kann. Wenn ich nämlich aus- wendig gelernte Reden und Gedichte schweigend in Gedanken wiederholte, wobei allerdings auch eine gewisse Aufmerksamkeit auf das äußere, wiewohl unterdrückte, Element des Vortrags gerichtet war, so konnte ich sehr deutlich ein leises Zucken in der Zunge, ein schwaches, oft nur beabsichtigtes, Nachahmen aller Articulationen an mir bemerken. Auch Herbart sagt (Be- merkungen über die Bildung und Entwickelung der Vorstellungs- reihen, S. W. VII. S. 320): „Das stille Denken ist großentheils merklich ein zurückgehaltenes Sprechen; und man hat allen Grund anzunehmen, daß wirklich ein Handeln dabei vorgeht, welches für die Seele schon ein äußeres Handeln ist; nämlich ein Anregen der Nerven, welche die Sprachorgane regieren; nur nicht stark genug, um die Muskeln zu bewegen.“ §. 62. Ablösbarkeit des Denkens vom Sprechen, erwiesen durch Thatsachen. Dies halten wir für richtig. Wenn aber hieraus die Unzer- trennlichkeit von Sprechen und Denken folgen mag, so folgt daraus noch nicht ihre Einheit und Selbigkeit. Ja man darf daraus noch nicht einmal ihre Unzertrennlichkeit schließen; denn andere, nicht minder sichere Thatsachen, oder noch sichrere, beweisen die Trennbarkeit. Das Thier denkt ohne zu sprechen. Wir werden hierauf zurückkommen. Nur kann es uns nicht einfallen, beweisen zu wollen, daß das Thier denkt — es wäre überflüssige Mühe —, noch daß es nicht spricht — es wäre verschwendete Mühe. Wir wollen aber schon hier bemerken, daß das Thier nicht bloß empirisch denkt, in rein sinnlicher Gegenwart lebt; sondern es hat Gedächtniß, erkennt wieder — und hierin liegt ein Keim zum Bewußtsein der Vergangenheit —, ja noch mehr, es ver- muthet und erwartet die Zukunft, berechnet sie und macht über- haupt Schlüsse: das ist sogar schon ein apriorisches Element. „Das sind Thiere; aber der Mensch!“ — Nun, auch er denkt in manchen Fällen ohne Sprache. Der Taubstumme denkt oft verständiger als mancher Redende; er ist sogar meist schlau,

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/191>, abgerufen am 21.11.2024.