haben meint, richtet man auch die Betrachtungsweise ein. Was aber in der Sprache zu finden ist, was man wirklich an ihr hat, soll die Wissenschaft erst ausmachen -- einer von den tausend Kreisen, in denen sich die philologische Forschung ihrem We- sen nach bewegt.
§. 58. Bestimmung unserer Aufgabe.
Die vorliegende Arbeit ist nun gerade ein Versuch, das Princip und damit den Charakter der Sprachwissenschaft mit Sicherheit festzustellen und genau zu bestimmen. Unsere Ab- sicht ist nicht, ein System der Sprachwissenschaft aufzustellen, sondern nur erst den Weg dazu anzubahnen, ihm einen Boden zu bereiten, eine Grundlage zu geben. Wir können natürlich, wie so eben bemerkt worden, das Princip der Grammatik nicht anders finden, als indem wir uns in das allgemeine Wesen ihres Gegenstandes zu vertiefen suchen. Denn nichts anderes als das innerste und eigenste Wesen der Sprache, nichts anderes als das Moment, auf welchem ihr Sein und Wirken beruht, von welchem alle Verhältnisse, in denen sie steht, ganz vorzugsweise und im letzten Punkte abhängen -- weil mit diesem Momente sogleich die eigenthümliche Thätigkeit der Sprache beginnt, und ohne dasselbe nur todtes Material zur Sprache vorhanden sein kann, welches erst von ihm zu lebendiger Sprache organisirt, ja sogar von ihm erst herbeigeschafft wird --: nichts anderes als dies kann, darf das Princip der Grammatik sein. Ohne Sicherheit über dieses Princip würde sich nur der Bau, der Lautkörper der Sprache, die Sprache so weit sie in die Sinn- lichkeit fällt, äußerlich beschreiben lassen; aber die ihr inwoh- nende Seele und lebendige Bewegung, ihr geistiger Inhalt und seine Verhältnisse würden sich der Erkenntniß so vollständig entziehen können, daß man sie ganz und gar übersähe und statt ihrer der Sprache ein ganz fremdes Wesen unterschöbe. Daß es der bisherigen Grammatik so ergangen sei, daß sie fälsch- lich der Sprache eine logische Seele statt der eigenthümlich sprachlichen geliehen habe, ist nach unserer voranstehenden Kri- tik mindestens sehr wahrscheinlich geworden und muß zur Ge- wißheit gelangen je nach dem Grade, in welchem es uns im Folgenden gelingen wird, das wahre Wesen der Sprache, ihre Momente und ihre Verhältnisse zu den übrigen geistigen Thä- tigkeiten, ihre Stellung und Function in der Oekonomie des geistigen Leben ins rechte Licht zu setzen.
haben meint, richtet man auch die Betrachtungsweise ein. Was aber in der Sprache zu finden ist, was man wirklich an ihr hat, soll die Wissenschaft erst ausmachen — einer von den tausend Kreisen, in denen sich die philologische Forschung ihrem We- sen nach bewegt.
§. 58. Bestimmung unserer Aufgabe.
Die vorliegende Arbeit ist nun gerade ein Versuch, das Princip und damit den Charakter der Sprachwissenschaft mit Sicherheit festzustellen und genau zu bestimmen. Unsere Ab- sicht ist nicht, ein System der Sprachwissenschaft aufzustellen, sondern nur erst den Weg dazu anzubahnen, ihm einen Boden zu bereiten, eine Grundlage zu geben. Wir können natürlich, wie so eben bemerkt worden, das Princip der Grammatik nicht anders finden, als indem wir uns in das allgemeine Wesen ihres Gegenstandes zu vertiefen suchen. Denn nichts anderes als das innerste und eigenste Wesen der Sprache, nichts anderes als das Moment, auf welchem ihr Sein und Wirken beruht, von welchem alle Verhältnisse, in denen sie steht, ganz vorzugsweise und im letzten Punkte abhängen — weil mit diesem Momente sogleich die eigenthümliche Thätigkeit der Sprache beginnt, und ohne dasselbe nur todtes Material zur Sprache vorhanden sein kann, welches erst von ihm zu lebendiger Sprache organisirt, ja sogar von ihm erst herbeigeschafft wird —: nichts anderes als dies kann, darf das Princip der Grammatik sein. Ohne Sicherheit über dieses Princip würde sich nur der Bau, der Lautkörper der Sprache, die Sprache so weit sie in die Sinn- lichkeit fällt, äußerlich beschreiben lassen; aber die ihr inwoh- nende Seele und lebendige Bewegung, ihr geistiger Inhalt und seine Verhältnisse würden sich der Erkenntniß so vollständig entziehen können, daß man sie ganz und gar übersähe und statt ihrer der Sprache ein ganz fremdes Wesen unterschöbe. Daß es der bisherigen Grammatik so ergangen sei, daß sie fälsch- lich der Sprache eine logische Seele statt der eigenthümlich sprachlichen geliehen habe, ist nach unserer voranstehenden Kri- tik mindestens sehr wahrscheinlich geworden und muß zur Ge- wißheit gelangen je nach dem Grade, in welchem es uns im Folgenden gelingen wird, das wahre Wesen der Sprache, ihre Momente und ihre Verhältnisse zu den übrigen geistigen Thä- tigkeiten, ihre Stellung und Function in der Oekonomie des geistigen Leben ins rechte Licht zu setzen.
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haben meint, richtet man auch die Betrachtungsweise ein. Was
aber in der Sprache zu finden ist, was man wirklich an ihr hat,
soll die Wissenschaft erst ausmachen — einer von den tausend
Kreisen, in denen sich die philologische Forschung ihrem We-
sen nach bewegt.
§. 58. Bestimmung unserer Aufgabe.
Die vorliegende Arbeit ist nun gerade ein Versuch, das
Princip und damit den Charakter der Sprachwissenschaft mit
Sicherheit festzustellen und genau zu bestimmen. Unsere Ab-
sicht ist nicht, ein System der Sprachwissenschaft aufzustellen,
sondern nur erst den Weg dazu anzubahnen, ihm einen Boden
zu bereiten, eine Grundlage zu geben. Wir können natürlich,
wie so eben bemerkt worden, das Princip der Grammatik nicht
anders finden, als indem wir uns in das allgemeine Wesen ihres
Gegenstandes zu vertiefen suchen. Denn nichts anderes als das
innerste und eigenste Wesen der Sprache, nichts anderes als
das Moment, auf welchem ihr Sein und Wirken beruht, von
welchem alle Verhältnisse, in denen sie steht, ganz vorzugsweise
und im letzten Punkte abhängen — weil mit diesem Momente
sogleich die eigenthümliche Thätigkeit der Sprache beginnt, und
ohne dasselbe nur todtes Material zur Sprache vorhanden sein
kann, welches erst von ihm zu lebendiger Sprache organisirt,
ja sogar von ihm erst herbeigeschafft wird —: nichts anderes
als dies kann, darf das Princip der Grammatik sein. Ohne
Sicherheit über dieses Princip würde sich nur der Bau, der
Lautkörper der Sprache, die Sprache so weit sie in die Sinn-
lichkeit fällt, äußerlich beschreiben lassen; aber die ihr inwoh-
nende Seele und lebendige Bewegung, ihr geistiger Inhalt und
seine Verhältnisse würden sich der Erkenntniß so vollständig
entziehen können, daß man sie ganz und gar übersähe und statt
ihrer der Sprache ein ganz fremdes Wesen unterschöbe. Daß
es der bisherigen Grammatik so ergangen sei, daß sie fälsch-
lich der Sprache eine logische Seele statt der eigenthümlich
sprachlichen geliehen habe, ist nach unserer voranstehenden Kri-
tik mindestens sehr wahrscheinlich geworden und muß zur Ge-
wißheit gelangen je nach dem Grade, in welchem es uns im
Folgenden gelingen wird, das wahre Wesen der Sprache, ihre
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tigkeiten, ihre Stellung und Function in der Oekonomie des
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/181>, abgerufen am 03.12.2024.
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