Frage: wie ist Erkenntniß möglich? setzt ein Bewußtsein dar- über voraus, daß der Vorgang des Erkennens in der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Denken und Sein besteht; und man fragt sich, wie ist es aber nur möglich, daß das Denken das Sein durchdringe, oder das Sein ins Denken gelange, da beide so verschiedener Natur sind?
Dieses Verfahren, am Beginne einer Untersuchung sich die Räthsel und Schwierigkeiten, die an dem zu betrachtenden Ge- genstande hervortreten, vor allem klar zu vergegenwärtigen, ist durchaus aristotelisch und konnte bei einem Kenner und Ver- ehrer des Aristoteles, wie Trendelenburg, vorausgesetzt werden. Die Erkenntniß der diaporiai ist nach Aristoteles ein wesent- licher Theil wissenschaftlicher Forschung. Ganz ähnlich sehen auch Herbart und Hegel die Sache an. Es versteht sich von selbst, daß sich die Wissenschaft nicht mit dem ersten An- stoße von einem Widerspruche, auf den die gemeine oder erste Betrachtung fällt, begnügen kann, sondern daß es ihr ein ern- stes, wichtiges Geschäft ist, alle Widersprüche, die an ihren Ge- genständen hervortreten, umsichtig und allseitig aufzusuchen. Wir nennen diese Betrachtung die dialektische; sie muß sich in die speculative, d. h. in die Ueberwindung der Wider- sprüche auflösen. Die Speculation gewährt die eigentliche Er- kenntniß, die Dialektik ist der Reiz dazu. Wie wichtig letz- tere ist, liegt nun wohl auf der Hand; denn mit der Aufdeckung der Widersprüche, mit der Stellung der Fragen ist Anfang und Ende, Ausgangs- und Zielpunkt bestimmt; und wie sehr ist da- durch schon der ganze Weg der Wissenschaft vorgezeichnet! Ja, es ist überhaupt schwer, Dialektik und Speculation scharf zu scheiden; sie bilden zusammen den einen Weg der Wissenschaft; die Speculation ist die Fortsetzung der Wissenschaft; aber wie wäre zu sagen, wo die eine aufhört, die andere beginnt? Spe- culation ist die fortgesetzte Dialektik selbst; denn nur durch die vollständigste Vergegenwärtigung der Widersprüche ver- schwinden sie, und sie sind verschwunden, sobald sie vollständig aufgefaßt sind.
Die Dialektik ist also gar nicht etwas Besonderes; sie ist die wissenschaftliche Forschung selbst, und diese könnte sie nicht aufgeben, ohne ihr Wesen zu verlieren. Sie muß also die Wis- senschaft überall begleiten und kann nie fehlen. Sie ist nichts
Frage: wie ist Erkenntniß möglich? setzt ein Bewußtsein dar- über voraus, daß der Vorgang des Erkennens in der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Denken und Sein besteht; und man fragt sich, wie ist es aber nur möglich, daß das Denken das Sein durchdringe, oder das Sein ins Denken gelange, da beide so verschiedener Natur sind?
Dieses Verfahren, am Beginne einer Untersuchung sich die Räthsel und Schwierigkeiten, die an dem zu betrachtenden Ge- genstande hervortreten, vor allem klar zu vergegenwärtigen, ist durchaus aristotelisch und konnte bei einem Kenner und Ver- ehrer des Aristoteles, wie Trendelenburg, vorausgesetzt werden. Die Erkenntniß der διαποϱίαι ist nach Aristoteles ein wesent- licher Theil wissenschaftlicher Forschung. Ganz ähnlich sehen auch Herbart und Hegel die Sache an. Es versteht sich von selbst, daß sich die Wissenschaft nicht mit dem ersten An- stoße von einem Widerspruche, auf den die gemeine oder erste Betrachtung fällt, begnügen kann, sondern daß es ihr ein ern- stes, wichtiges Geschäft ist, alle Widersprüche, die an ihren Ge- genständen hervortreten, umsichtig und allseitig aufzusuchen. Wir nennen diese Betrachtung die dialektische; sie muß sich in die speculative, d. h. in die Ueberwindung der Wider- sprüche auflösen. Die Speculation gewährt die eigentliche Er- kenntniß, die Dialektik ist der Reiz dazu. Wie wichtig letz- tere ist, liegt nun wohl auf der Hand; denn mit der Aufdeckung der Widersprüche, mit der Stellung der Fragen ist Anfang und Ende, Ausgangs- und Zielpunkt bestimmt; und wie sehr ist da- durch schon der ganze Weg der Wissenschaft vorgezeichnet! Ja, es ist überhaupt schwer, Dialektik und Speculation scharf zu scheiden; sie bilden zusammen den einen Weg der Wissenschaft; die Speculation ist die Fortsetzung der Wissenschaft; aber wie wäre zu sagen, wo die eine aufhört, die andere beginnt? Spe- culation ist die fortgesetzte Dialektik selbst; denn nur durch die vollständigste Vergegenwärtigung der Widersprüche ver- schwinden sie, und sie sind verschwunden, sobald sie vollständig aufgefaßt sind.
Die Dialektik ist also gar nicht etwas Besonderes; sie ist die wissenschaftliche Forschung selbst, und diese könnte sie nicht aufgeben, ohne ihr Wesen zu verlieren. Sie muß also die Wis- senschaft überall begleiten und kann nie fehlen. Sie ist nichts
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Frage: wie ist Erkenntniß möglich? setzt ein Bewußtsein dar-
über voraus, daß der Vorgang des Erkennens in der Aufhebung
des Gegensatzes zwischen Denken und Sein besteht; und man
fragt sich, wie ist es aber nur möglich, daß das Denken das
Sein durchdringe, oder das Sein ins Denken gelange, da beide
so verschiedener Natur sind?
§ 31. Dialektik, Speculation, logischer Formalismus.
Dieses Verfahren, am Beginne einer Untersuchung sich die
Räthsel und Schwierigkeiten, die an dem zu betrachtenden Ge-
genstande hervortreten, vor allem klar zu vergegenwärtigen, ist
durchaus aristotelisch und konnte bei einem Kenner und Ver-
ehrer des Aristoteles, wie Trendelenburg, vorausgesetzt werden.
Die Erkenntniß der διαποϱίαι ist nach Aristoteles ein wesent-
licher Theil wissenschaftlicher Forschung. Ganz ähnlich sehen
auch Herbart und Hegel die Sache an. Es versteht sich von
selbst, daß sich die Wissenschaft nicht mit dem ersten An-
stoße von einem Widerspruche, auf den die gemeine oder erste
Betrachtung fällt, begnügen kann, sondern daß es ihr ein ern-
stes, wichtiges Geschäft ist, alle Widersprüche, die an ihren Ge-
genständen hervortreten, umsichtig und allseitig aufzusuchen.
Wir nennen diese Betrachtung die dialektische; sie muß sich
in die speculative, d. h. in die Ueberwindung der Wider-
sprüche auflösen. Die Speculation gewährt die eigentliche Er-
kenntniß, die Dialektik ist der Reiz dazu. Wie wichtig letz-
tere ist, liegt nun wohl auf der Hand; denn mit der Aufdeckung
der Widersprüche, mit der Stellung der Fragen ist Anfang und
Ende, Ausgangs- und Zielpunkt bestimmt; und wie sehr ist da-
durch schon der ganze Weg der Wissenschaft vorgezeichnet!
Ja, es ist überhaupt schwer, Dialektik und Speculation scharf zu
scheiden; sie bilden zusammen den einen Weg der Wissenschaft;
die Speculation ist die Fortsetzung der Wissenschaft; aber wie
wäre zu sagen, wo die eine aufhört, die andere beginnt? Spe-
culation ist die fortgesetzte Dialektik selbst; denn nur durch
die vollständigste Vergegenwärtigung der Widersprüche ver-
schwinden sie, und sie sind verschwunden, sobald sie vollständig
aufgefaßt sind.
Die Dialektik ist also gar nicht etwas Besonderes; sie ist
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/106>, abgerufen am 22.12.2024.
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