Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.VI. Das Enteignungsrecht in Deutschland. Charakter des gegenwärtigen Zustandes. Dennoch ist bei aller Gleichartigkeit in Wesen und Princip diese Während nämlich alle deutschen Staaten das Rechtsprincip der VI. Das Enteignungsrecht in Deutſchland. Charakter des gegenwärtigen Zuſtandes. Dennoch iſt bei aller Gleichartigkeit in Weſen und Princip dieſe Während nämlich alle deutſchen Staaten das Rechtsprincip der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0332" n="314"/> <div n="6"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Das Enteignungsrecht in Deutſchland. Charakter des gegenwärtigen<lb/> Zuſtandes.</hi> </head><lb/> <p>Dennoch iſt bei aller Gleichartigkeit in Weſen und Princip dieſe<lb/> deutſche Rechtsbildung weder der franzöſiſchen gleich nachgefolgt, noch<lb/> auch iſt ſie ſelbſt in Form und Umfang gleichartig. Und das hängt<lb/> wieder mit dem ganzen öffentlichen Recht der vollziehenden Gewalt in<lb/> Deutſchland zuſammen.</p><lb/> <p>Während nämlich alle deutſchen Staaten das Rechtsprincip der<lb/> Enteignung und der Entſchädigung als ein unzweifelhaftes anerkannten,<lb/> war beinahe ausnahmslos der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verord-<lb/> nung und mithin die Frage nach Aufgabe und Gränze des geſetz- und<lb/> des verordnungsmäßigen Enteignungsrechts nicht zur Entwicklung ge-<lb/> diehen. Namentlich in den beiden Hauptſtaaten, Oeſterreich und Preußen,<lb/> gab es überhaupt bis 1848 keine Verfaſſung, alſo auch kein Geſetz, und<lb/> man hatte daher weder Luſt noch Willen, den franzöſiſchen Unterſchied<lb/> zwiſchen <hi rendition="#aq">loi</hi> und <hi rendition="#aq">ordonnance</hi> auf das Enteignungsrecht anzuwenden.<lb/> Da nun aber die andern Staaten — der Süden ſeit 1818, die Mitte<lb/> und ein Theil des Nordens ſeit 1830 — zu wirklichen geſetzgebenden<lb/> Körpern gelangt waren, ſo konnten dieſe Staaten auch die Enteignungs-<lb/> geſetzgebung bei ſich weiter ausbilden. Allein dieſe Ausbildung war,<lb/> da man auch hier vielfach über das Weſen und Recht von Geſetz und<lb/> Verordnung unklar blieb oder bleiben wollte, eine ſehr verſchiedene. Man<lb/> kann daher allerdings die beiden oben bezeichneten Perioden in den<lb/> deutſchen Staaten recht wohl unterſcheiden, die Periode des Princips<lb/> und die der Durchführung des geſetzlichen Enteignungsrechts; allein der<lb/> Entwicklungsgang iſt dennoch ein ſehr verſchiedener. In einigen Staaten<lb/> blieb man ganz bei der allgemeinen Anerkennung des Enteignungsrechts<lb/> ſtehen; namentlich in Oeſterreich und Preußen, deren bürgerliche Geſetz-<lb/> bücher auszureichen ſchienen. Hier behielt die <hi rendition="#g">Regierung</hi> daher aus-<lb/> ſchließlich das Recht der Genehmigung der Enteignung in ihrer Hand<lb/> und leitete das Verfahren gleichfalls auf dem Wege der Verordnung.<lb/> In den Staaten der <hi rendition="#g">erſten</hi> Verfaſſungsperiode (<hi rendition="#g">Bayern</hi>, Verfaſſung<lb/> 1818 §. 8 Abſ. 4, dem die Verordnung vom 14. Auguſt 1815 vorauf-<lb/> geht, <hi rendition="#g">Württemberg</hi> 1819 §. 30, Baden 1818 §. 14 Abſ. 4, <hi rendition="#g">Heſſen-<lb/> Darmſtadt</hi> 1820 §. 27) wird derſelbe Grundſatz, den das Allgem.<lb/> Preuß. Landrecht Tit. 17 und das Oeſterreichiſche bürgerliche Geſetzbuch<lb/> Art. 345 ausſprechen, zwar in die Verfaſſungen aufgenommen, allein<lb/> von einer Aufrufung des <hi rendition="#g">Geſetzes</hi> oder von einer Beſtimmung der<lb/> gerichtlichen Funktion neben der der Regierung iſt anfänglich noch gar<lb/> keine Rede; man erkennt deutlich, daß dieſe Geſetzgebungen noch ziemlich<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [314/0332]
VI. Das Enteignungsrecht in Deutſchland. Charakter des gegenwärtigen
Zuſtandes.
Dennoch iſt bei aller Gleichartigkeit in Weſen und Princip dieſe
deutſche Rechtsbildung weder der franzöſiſchen gleich nachgefolgt, noch
auch iſt ſie ſelbſt in Form und Umfang gleichartig. Und das hängt
wieder mit dem ganzen öffentlichen Recht der vollziehenden Gewalt in
Deutſchland zuſammen.
Während nämlich alle deutſchen Staaten das Rechtsprincip der
Enteignung und der Entſchädigung als ein unzweifelhaftes anerkannten,
war beinahe ausnahmslos der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verord-
nung und mithin die Frage nach Aufgabe und Gränze des geſetz- und
des verordnungsmäßigen Enteignungsrechts nicht zur Entwicklung ge-
diehen. Namentlich in den beiden Hauptſtaaten, Oeſterreich und Preußen,
gab es überhaupt bis 1848 keine Verfaſſung, alſo auch kein Geſetz, und
man hatte daher weder Luſt noch Willen, den franzöſiſchen Unterſchied
zwiſchen loi und ordonnance auf das Enteignungsrecht anzuwenden.
Da nun aber die andern Staaten — der Süden ſeit 1818, die Mitte
und ein Theil des Nordens ſeit 1830 — zu wirklichen geſetzgebenden
Körpern gelangt waren, ſo konnten dieſe Staaten auch die Enteignungs-
geſetzgebung bei ſich weiter ausbilden. Allein dieſe Ausbildung war,
da man auch hier vielfach über das Weſen und Recht von Geſetz und
Verordnung unklar blieb oder bleiben wollte, eine ſehr verſchiedene. Man
kann daher allerdings die beiden oben bezeichneten Perioden in den
deutſchen Staaten recht wohl unterſcheiden, die Periode des Princips
und die der Durchführung des geſetzlichen Enteignungsrechts; allein der
Entwicklungsgang iſt dennoch ein ſehr verſchiedener. In einigen Staaten
blieb man ganz bei der allgemeinen Anerkennung des Enteignungsrechts
ſtehen; namentlich in Oeſterreich und Preußen, deren bürgerliche Geſetz-
bücher auszureichen ſchienen. Hier behielt die Regierung daher aus-
ſchließlich das Recht der Genehmigung der Enteignung in ihrer Hand
und leitete das Verfahren gleichfalls auf dem Wege der Verordnung.
In den Staaten der erſten Verfaſſungsperiode (Bayern, Verfaſſung
1818 §. 8 Abſ. 4, dem die Verordnung vom 14. Auguſt 1815 vorauf-
geht, Württemberg 1819 §. 30, Baden 1818 §. 14 Abſ. 4, Heſſen-
Darmſtadt 1820 §. 27) wird derſelbe Grundſatz, den das Allgem.
Preuß. Landrecht Tit. 17 und das Oeſterreichiſche bürgerliche Geſetzbuch
Art. 345 ausſprechen, zwar in die Verfaſſungen aufgenommen, allein
von einer Aufrufung des Geſetzes oder von einer Beſtimmung der
gerichtlichen Funktion neben der der Regierung iſt anfänglich noch gar
keine Rede; man erkennt deutlich, daß dieſe Geſetzgebungen noch ziemlich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |