Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Berufsbildungswesens, wie wir es im Einzelnen darlegen werden, einen
Blick auf das belgische anzuschließen. Die Grundlage des belgischen Systems
ist aber auch hier der Unterschied zwischen den Staatsanstalten, den soge-
nannten Athenees und den Gemeindeanstalten als Colleges. In beiden
ist das Bifurcationssystem gleichfalls durchgeführt, aber wo möglich noch
unvollkommener als in Frankreich, namentlich seitdem die Prüfungen
aus dem Griechischen seit 1849 speciell, und die ganze Abiturienten-
prüfung seit 1855 weggefallen sind. Die Darstellung von Le
Roy
bei Schmid Bd. I. S. 505 ff. gibt ein im Grunde nicht erfreu-
liches Bild; doch ist glücklicher Weise noch die Fachprüfung durch die
Prüfungsjury erhalten, die freilich in ihrer Organisation und ihrem
Rechte so vielfach geändert scheinen, daß sie kaum ihrem Zwecke ent-
sprechen dürften. Von einer Vergleichung mit Deutschland ist wohl
keine Rede. Die Statistik bei Le Roy a. a. O. und bei Brachelli
(Staaten Europas S. 557). Die technischen Schulen sind in Belgien
mit den Universitäten von Gent und Lüttich verbunden; eine Civil-In-
genieurschule in Gent und eine Kunst-, Manufaktur- und Bergwerk-
schule in Lüttich; alles nach französischem Muster, meist mit möglichster,
und dadurch durchaus unvortheilhafter Verbindung der verschiedenen
Zweige (Brachelli a. a. O. 571).

II. Das System.
Charakter desselben.

Wir glauben nun einen Ueberblick des Systems in seinen einzelnen
Theilen der bisherigen Darstellung anschließen zu müssen; wenn die-
selbe auch nicht vollständig genug sein kann, um alle einzelnen Fragen
zu lösen, so wird sie doch das bisher im Allgemeinen Gesagte im Ein-
zelnen bestätigen. Zugleich aber dürfen wir einige wesentliche Be-
merkungen über den Geist dieses Systems voraussenden.

Das Eigenthümliche des gesammten französischen geistigen Lebens
besteht in einem tiefen Widerspruch, unter dem es leidet. Das Ein-
zelne ist frei, aber das System ist unfrei
. Jede freie Bewegung
tritt daher sofort in Opposition, während sie in Deutschland für das
Ganze förderlich wirkt. Das liegt in der doppelten Nationalität Frank-
reichs, die aus romanischen und germanischen Elementen wunderbar ge-
mischt ist, und die sich gerade im geistigen Leben am deutlichsten zeigt.
Daher denn auch ein beständiges Streben nach einer freieren Gestaltung
des Systems, ein Greifen nach dem englischen oder dem deutschen
Princip, ohne daß es zu einer durchgreifenden Neubildung gelangen
konnte. Denn die Hauptsache, der Mangel an Selbständigkeit des

Berufsbildungsweſens, wie wir es im Einzelnen darlegen werden, einen
Blick auf das belgiſche anzuſchließen. Die Grundlage des belgiſchen Syſtems
iſt aber auch hier der Unterſchied zwiſchen den Staatsanſtalten, den ſoge-
nannten Athenées und den Gemeindeanſtalten als Colleges. In beiden
iſt das Bifurcationsſyſtem gleichfalls durchgeführt, aber wo möglich noch
unvollkommener als in Frankreich, namentlich ſeitdem die Prüfungen
aus dem Griechiſchen ſeit 1849 ſpeciell, und die ganze Abiturienten-
prüfung ſeit 1855 weggefallen ſind. Die Darſtellung von Le
Roy
bei Schmid Bd. I. S. 505 ff. gibt ein im Grunde nicht erfreu-
liches Bild; doch iſt glücklicher Weiſe noch die Fachprüfung durch die
Prüfungsjury erhalten, die freilich in ihrer Organiſation und ihrem
Rechte ſo vielfach geändert ſcheinen, daß ſie kaum ihrem Zwecke ent-
ſprechen dürften. Von einer Vergleichung mit Deutſchland iſt wohl
keine Rede. Die Statiſtik bei Le Roy a. a. O. und bei Brachelli
(Staaten Europas S. 557). Die techniſchen Schulen ſind in Belgien
mit den Univerſitäten von Gent und Lüttich verbunden; eine Civil-In-
genieurſchule in Gent und eine Kunſt-, Manufaktur- und Bergwerk-
ſchule in Lüttich; alles nach franzöſiſchem Muſter, meiſt mit möglichſter,
und dadurch durchaus unvortheilhafter Verbindung der verſchiedenen
Zweige (Brachelli a. a. O. 571).

II. Das Syſtem.
Charakter deſſelben.

Wir glauben nun einen Ueberblick des Syſtems in ſeinen einzelnen
Theilen der bisherigen Darſtellung anſchließen zu müſſen; wenn die-
ſelbe auch nicht vollſtändig genug ſein kann, um alle einzelnen Fragen
zu löſen, ſo wird ſie doch das bisher im Allgemeinen Geſagte im Ein-
zelnen beſtätigen. Zugleich aber dürfen wir einige weſentliche Be-
merkungen über den Geiſt dieſes Syſtems vorausſenden.

Das Eigenthümliche des geſammten franzöſiſchen geiſtigen Lebens
beſteht in einem tiefen Widerſpruch, unter dem es leidet. Das Ein-
zelne iſt frei, aber das Syſtem iſt unfrei
. Jede freie Bewegung
tritt daher ſofort in Oppoſition, während ſie in Deutſchland für das
Ganze förderlich wirkt. Das liegt in der doppelten Nationalität Frank-
reichs, die aus romaniſchen und germaniſchen Elementen wunderbar ge-
miſcht iſt, und die ſich gerade im geiſtigen Leben am deutlichſten zeigt.
Daher denn auch ein beſtändiges Streben nach einer freieren Geſtaltung
des Syſtems, ein Greifen nach dem engliſchen oder dem deutſchen
Princip, ohne daß es zu einer durchgreifenden Neubildung gelangen
konnte. Denn die Hauptſache, der Mangel an Selbſtändigkeit des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0324" n="296"/>
Berufsbildungswe&#x017F;ens, wie wir es im Einzelnen darlegen werden, einen<lb/>
Blick auf das <hi rendition="#g">belgi&#x017F;che</hi> anzu&#x017F;chließen. Die Grundlage des belgi&#x017F;chen Sy&#x017F;tems<lb/>
i&#x017F;t aber auch hier der Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen den Staatsan&#x017F;talten, den &#x017F;oge-<lb/>
nannten Athen<hi rendition="#aq">é</hi>es und den Gemeindean&#x017F;talten als Colleges. In beiden<lb/>
i&#x017F;t das Bifurcations&#x017F;y&#x017F;tem gleichfalls durchgeführt, aber wo möglich noch<lb/>
unvollkommener als in Frankreich, namentlich &#x017F;eitdem die Prüfungen<lb/>
aus dem Griechi&#x017F;chen &#x017F;eit 1849 &#x017F;peciell, und die ganze Abiturienten-<lb/>
prüfung &#x017F;eit 1855 <hi rendition="#g">weggefallen &#x017F;ind</hi>. Die Dar&#x017F;tellung von <hi rendition="#g">Le<lb/>
Roy</hi> bei Schmid Bd. <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 505 ff. gibt ein im Grunde nicht erfreu-<lb/>
liches Bild; doch i&#x017F;t glücklicher Wei&#x017F;e noch die Fachprüfung durch die<lb/>
Prüfungsjury erhalten, die freilich in ihrer Organi&#x017F;ation und ihrem<lb/>
Rechte &#x017F;o vielfach geändert &#x017F;cheinen, daß &#x017F;ie kaum ihrem Zwecke ent-<lb/>
&#x017F;prechen dürften. Von einer Vergleichung mit Deut&#x017F;chland i&#x017F;t wohl<lb/><hi rendition="#g">keine Rede</hi>. Die Stati&#x017F;tik bei <hi rendition="#g">Le Roy</hi> a. a. O. und bei <hi rendition="#g">Brachelli</hi><lb/>
(Staaten Europas S. 557). Die <hi rendition="#g">techni&#x017F;chen</hi> Schulen &#x017F;ind in Belgien<lb/>
mit den Univer&#x017F;itäten von Gent und Lüttich verbunden; eine Civil-In-<lb/>
genieur&#x017F;chule in Gent und eine Kun&#x017F;t-, Manufaktur- und Bergwerk-<lb/>
&#x017F;chule in Lüttich; alles nach franzö&#x017F;i&#x017F;chem Mu&#x017F;ter, mei&#x017F;t mit möglich&#x017F;ter,<lb/>
und dadurch durchaus unvortheilhafter Verbindung der ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Zweige (<hi rendition="#g">Brachelli</hi> a. a. O. 571).</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Das Sy&#x017F;tem.</hi><lb/><hi rendition="#g">Charakter de&#x017F;&#x017F;elben</hi>.</head><lb/>
                  <p>Wir glauben nun einen Ueberblick des Sy&#x017F;tems in &#x017F;einen einzelnen<lb/>
Theilen der bisherigen Dar&#x017F;tellung an&#x017F;chließen zu mü&#x017F;&#x017F;en; wenn die-<lb/>
&#x017F;elbe auch nicht voll&#x017F;tändig genug &#x017F;ein kann, um alle einzelnen Fragen<lb/>
zu lö&#x017F;en, &#x017F;o wird &#x017F;ie doch das bisher im Allgemeinen Ge&#x017F;agte im Ein-<lb/>
zelnen be&#x017F;tätigen. Zugleich aber dürfen wir einige we&#x017F;entliche Be-<lb/>
merkungen über den Gei&#x017F;t die&#x017F;es Sy&#x017F;tems voraus&#x017F;enden.</p><lb/>
                  <p>Das Eigenthümliche des ge&#x017F;ammten franzö&#x017F;i&#x017F;chen gei&#x017F;tigen Lebens<lb/>
be&#x017F;teht in einem tiefen Wider&#x017F;pruch, unter dem es leidet. <hi rendition="#g">Das Ein-<lb/>
zelne i&#x017F;t frei, aber das Sy&#x017F;tem i&#x017F;t unfrei</hi>. Jede freie Bewegung<lb/>
tritt daher &#x017F;ofort in Oppo&#x017F;ition, während &#x017F;ie in Deut&#x017F;chland für das<lb/>
Ganze förderlich wirkt. Das liegt in der doppelten Nationalität Frank-<lb/>
reichs, die aus romani&#x017F;chen und germani&#x017F;chen Elementen wunderbar ge-<lb/>
mi&#x017F;cht i&#x017F;t, und die &#x017F;ich gerade im gei&#x017F;tigen Leben am deutlich&#x017F;ten zeigt.<lb/>
Daher denn auch ein be&#x017F;tändiges Streben nach einer freieren Ge&#x017F;taltung<lb/>
des Sy&#x017F;tems, ein Greifen nach dem engli&#x017F;chen oder dem deut&#x017F;chen<lb/>
Princip, ohne daß es zu einer durchgreifenden Neubildung gelangen<lb/>
konnte. Denn die Haupt&#x017F;ache, der Mangel an Selb&#x017F;tändigkeit des<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[296/0324] Berufsbildungsweſens, wie wir es im Einzelnen darlegen werden, einen Blick auf das belgiſche anzuſchließen. Die Grundlage des belgiſchen Syſtems iſt aber auch hier der Unterſchied zwiſchen den Staatsanſtalten, den ſoge- nannten Athenées und den Gemeindeanſtalten als Colleges. In beiden iſt das Bifurcationsſyſtem gleichfalls durchgeführt, aber wo möglich noch unvollkommener als in Frankreich, namentlich ſeitdem die Prüfungen aus dem Griechiſchen ſeit 1849 ſpeciell, und die ganze Abiturienten- prüfung ſeit 1855 weggefallen ſind. Die Darſtellung von Le Roy bei Schmid Bd. I. S. 505 ff. gibt ein im Grunde nicht erfreu- liches Bild; doch iſt glücklicher Weiſe noch die Fachprüfung durch die Prüfungsjury erhalten, die freilich in ihrer Organiſation und ihrem Rechte ſo vielfach geändert ſcheinen, daß ſie kaum ihrem Zwecke ent- ſprechen dürften. Von einer Vergleichung mit Deutſchland iſt wohl keine Rede. Die Statiſtik bei Le Roy a. a. O. und bei Brachelli (Staaten Europas S. 557). Die techniſchen Schulen ſind in Belgien mit den Univerſitäten von Gent und Lüttich verbunden; eine Civil-In- genieurſchule in Gent und eine Kunſt-, Manufaktur- und Bergwerk- ſchule in Lüttich; alles nach franzöſiſchem Muſter, meiſt mit möglichſter, und dadurch durchaus unvortheilhafter Verbindung der verſchiedenen Zweige (Brachelli a. a. O. 571). II. Das Syſtem. Charakter deſſelben. Wir glauben nun einen Ueberblick des Syſtems in ſeinen einzelnen Theilen der bisherigen Darſtellung anſchließen zu müſſen; wenn die- ſelbe auch nicht vollſtändig genug ſein kann, um alle einzelnen Fragen zu löſen, ſo wird ſie doch das bisher im Allgemeinen Geſagte im Ein- zelnen beſtätigen. Zugleich aber dürfen wir einige weſentliche Be- merkungen über den Geiſt dieſes Syſtems vorausſenden. Das Eigenthümliche des geſammten franzöſiſchen geiſtigen Lebens beſteht in einem tiefen Widerſpruch, unter dem es leidet. Das Ein- zelne iſt frei, aber das Syſtem iſt unfrei. Jede freie Bewegung tritt daher ſofort in Oppoſition, während ſie in Deutſchland für das Ganze förderlich wirkt. Das liegt in der doppelten Nationalität Frank- reichs, die aus romaniſchen und germaniſchen Elementen wunderbar ge- miſcht iſt, und die ſich gerade im geiſtigen Leben am deutlichſten zeigt. Daher denn auch ein beſtändiges Streben nach einer freieren Geſtaltung des Syſtems, ein Greifen nach dem engliſchen oder dem deutſchen Princip, ohne daß es zu einer durchgreifenden Neubildung gelangen konnte. Denn die Hauptſache, der Mangel an Selbſtändigkeit des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/324
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/324>, abgerufen am 21.11.2024.