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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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wird ein allgemeines, ohne jedoch schon ganz zur formellen Geltung zu
gelangen. So leidet Deutschland auch für sein Verwaltungsrecht an
dem ihm eigenen Widerspruch. Seine gesellschaftlichen und volkswirth-
schaftlichen Zustände bilden eine mehr und mehr gleichartige Einheit;
seine Staaten aber haben gesonderte und selbständige Verwaltungsrechte.
Dieser tiefe Widerspruch hat nun eine neue und eigenthümliche Erschei-
nung hervorgerufen, welche mehr und mehr von Bedeutung wird. Das
ist der Anfang der Bildung eines gemeinsamen deutschen Ver-
waltungsrechts
, dem sich die einzelnen Staaten unterordnen. Die
Formen desselben sind bisher dreifach. Zuerst entsteht ein Verwaltungs-
recht durch den Bund, ein Bundesverwaltungsrecht, durch Bundes-
beschlüsse, welche Verwaltungsangelegenheiten betreffen (wie z. B. Preß-
polizei, Markenrecht), anderseits entsteht dasselbe durch internationale
Verträge (des Zollvereins, Paß- und Legitimationskarten, Post,
Telegraphen) und endlich durch das deutsche Vereinswesen (wie
Eisenbahnrecht). Daß die deutsche Staatsrechts- und Bundesrechtslehre
sich dieser Thatsache gegenüber nicht zu helfen weiß, beruht darauf,
daß sie keinen Begriff der Verwaltung hat. Die Verwaltungslehre aber,
die gerade hier berufen wäre, die Einheit der Idee und endlich auch
die Praxis zu vertreten, ist selbst, wie wir früher dargelegt, in ihre
großen Theile einheitslos zersplittert. Um so größer ist ihr Beruf und
ihre Aufgabe. Nirgends hat sie eine großartigere Bestimmung als in
Deutschland. Und darum möge es uns verstattet sein, den letzten Punkt
dieser Einleitung, das Verhältniß der Wissenschaft oder der Verwal-
tungslehre
zum geltenden Verwaltungsrecht zu berühren.

III.
Codification und Wissenschaft.

Es scheint uns ganz überflüssig, hier im Allgemeinen von der
Stellung und dem Werthe der Wissenschaft zu reden. Wohl aber dür-
fen wir zum Schluß die Stellung der Verwaltungslehre als reiner
Doctrin gegenüber dem Verwaltungsrecht als eines positiven und mäch-
tigen Rechtskörpers hervorheben.

Wenn nämlich das Verwaltungsrecht einerseits in seinem Verhält-
niß zum praktischen Leben und anderseits in dem Processe seiner Bil-
dung eine so große Bedeutung hat, so entsteht die Frage, ob es nicht
von hohem Werthe sei, dieß Verwaltungsrecht wie das Finanzrecht und
namentlich das bürgerliche Recht zu einem Gesammtgesetze zu erhe-
ben, und demselben auf diese Weise eine Codification zum Grunde

wird ein allgemeines, ohne jedoch ſchon ganz zur formellen Geltung zu
gelangen. So leidet Deutſchland auch für ſein Verwaltungsrecht an
dem ihm eigenen Widerſpruch. Seine geſellſchaftlichen und volkswirth-
ſchaftlichen Zuſtände bilden eine mehr und mehr gleichartige Einheit;
ſeine Staaten aber haben geſonderte und ſelbſtändige Verwaltungsrechte.
Dieſer tiefe Widerſpruch hat nun eine neue und eigenthümliche Erſchei-
nung hervorgerufen, welche mehr und mehr von Bedeutung wird. Das
iſt der Anfang der Bildung eines gemeinſamen deutſchen Ver-
waltungsrechts
, dem ſich die einzelnen Staaten unterordnen. Die
Formen deſſelben ſind bisher dreifach. Zuerſt entſteht ein Verwaltungs-
recht durch den Bund, ein Bundesverwaltungsrecht, durch Bundes-
beſchlüſſe, welche Verwaltungsangelegenheiten betreffen (wie z. B. Preß-
polizei, Markenrecht), anderſeits entſteht daſſelbe durch internationale
Verträge (des Zollvereins, Paß- und Legitimationskarten, Poſt,
Telegraphen) und endlich durch das deutſche Vereinsweſen (wie
Eiſenbahnrecht). Daß die deutſche Staatsrechts- und Bundesrechtslehre
ſich dieſer Thatſache gegenüber nicht zu helfen weiß, beruht darauf,
daß ſie keinen Begriff der Verwaltung hat. Die Verwaltungslehre aber,
die gerade hier berufen wäre, die Einheit der Idee und endlich auch
die Praxis zu vertreten, iſt ſelbſt, wie wir früher dargelegt, in ihre
großen Theile einheitslos zerſplittert. Um ſo größer iſt ihr Beruf und
ihre Aufgabe. Nirgends hat ſie eine großartigere Beſtimmung als in
Deutſchland. Und darum möge es uns verſtattet ſein, den letzten Punkt
dieſer Einleitung, das Verhältniß der Wiſſenſchaft oder der Verwal-
tungslehre
zum geltenden Verwaltungsrecht zu berühren.

III.
Codification und Wiſſenſchaft.

Es ſcheint uns ganz überflüſſig, hier im Allgemeinen von der
Stellung und dem Werthe der Wiſſenſchaft zu reden. Wohl aber dür-
fen wir zum Schluß die Stellung der Verwaltungslehre als reiner
Doctrin gegenüber dem Verwaltungsrecht als eines poſitiven und mäch-
tigen Rechtskörpers hervorheben.

Wenn nämlich das Verwaltungsrecht einerſeits in ſeinem Verhält-
niß zum praktiſchen Leben und anderſeits in dem Proceſſe ſeiner Bil-
dung eine ſo große Bedeutung hat, ſo entſteht die Frage, ob es nicht
von hohem Werthe ſei, dieß Verwaltungsrecht wie das Finanzrecht und
namentlich das bürgerliche Recht zu einem Geſammtgeſetze zu erhe-
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[92/0114] wird ein allgemeines, ohne jedoch ſchon ganz zur formellen Geltung zu gelangen. So leidet Deutſchland auch für ſein Verwaltungsrecht an dem ihm eigenen Widerſpruch. Seine geſellſchaftlichen und volkswirth- ſchaftlichen Zuſtände bilden eine mehr und mehr gleichartige Einheit; ſeine Staaten aber haben geſonderte und ſelbſtändige Verwaltungsrechte. Dieſer tiefe Widerſpruch hat nun eine neue und eigenthümliche Erſchei- nung hervorgerufen, welche mehr und mehr von Bedeutung wird. Das iſt der Anfang der Bildung eines gemeinſamen deutſchen Ver- waltungsrechts, dem ſich die einzelnen Staaten unterordnen. Die Formen deſſelben ſind bisher dreifach. Zuerſt entſteht ein Verwaltungs- recht durch den Bund, ein Bundesverwaltungsrecht, durch Bundes- beſchlüſſe, welche Verwaltungsangelegenheiten betreffen (wie z. B. Preß- polizei, Markenrecht), anderſeits entſteht daſſelbe durch internationale Verträge (des Zollvereins, Paß- und Legitimationskarten, Poſt, Telegraphen) und endlich durch das deutſche Vereinsweſen (wie Eiſenbahnrecht). Daß die deutſche Staatsrechts- und Bundesrechtslehre ſich dieſer Thatſache gegenüber nicht zu helfen weiß, beruht darauf, daß ſie keinen Begriff der Verwaltung hat. Die Verwaltungslehre aber, die gerade hier berufen wäre, die Einheit der Idee und endlich auch die Praxis zu vertreten, iſt ſelbſt, wie wir früher dargelegt, in ihre großen Theile einheitslos zerſplittert. Um ſo größer iſt ihr Beruf und ihre Aufgabe. Nirgends hat ſie eine großartigere Beſtimmung als in Deutſchland. Und darum möge es uns verſtattet ſein, den letzten Punkt dieſer Einleitung, das Verhältniß der Wiſſenſchaft oder der Verwal- tungslehre zum geltenden Verwaltungsrecht zu berühren. III. Codification und Wiſſenſchaft. Es ſcheint uns ganz überflüſſig, hier im Allgemeinen von der Stellung und dem Werthe der Wiſſenſchaft zu reden. Wohl aber dür- fen wir zum Schluß die Stellung der Verwaltungslehre als reiner Doctrin gegenüber dem Verwaltungsrecht als eines poſitiven und mäch- tigen Rechtskörpers hervorheben. Wenn nämlich das Verwaltungsrecht einerſeits in ſeinem Verhält- niß zum praktiſchen Leben und anderſeits in dem Proceſſe ſeiner Bil- dung eine ſo große Bedeutung hat, ſo entſteht die Frage, ob es nicht von hohem Werthe ſei, dieß Verwaltungsrecht wie das Finanzrecht und namentlich das bürgerliche Recht zu einem Geſammtgeſetze zu erhe- ben, und demſelben auf dieſe Weiſe eine Codification zum Grunde

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/114>, abgerufen am 21.11.2024.