Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

oder der Wichtigkeit der Thatsachen, sondern diese liegen wie der Be-
griff des Maßes selbst, nur im Menschen, nicht in den Dingen. Für
sie gibt es aber auch kein Gebiet, das sie nicht bewältigen könnte; ihr
gehört alles, und daher gehört ihr auch das Leben des Staats.

Diese Wissenschaft der Thatsachen, indem sie nur auf den Staat
und sein Leben angewendet wird, ist die Statistik. Die Theorie
der Statistik, im Unterschied von der Wissenschaft der Thatsachen, ist
demnach wissenschaftlich definirt, die Lehre von der Art und Weise, wie
der Staat seine Beobachtungen macht, seine Durchschnitte und That-
sachen feststellt, und durch Untersuchung der in seinem Leben wirksamen
Ursachen und Wirkungen zum Verständniß der Gesetze gelangt, welche
dasselbe beherrschen. Das Ergebniß der Statistik sind dann diese
nach der Theorie derselben aufgestellten Thatsachen und Gesetze
des Staatslebens
. Das ist sehr einfach.

Sobald man nun, wie das meistens geschieht, diese Ergebnisse
selbst als die eigentliche Statistik betrachtet, so entsteht nicht bloß Ver-
wirrung in den Begriffen, sondern man gelangt überhaupt nicht zu
einer Theorie der Statistik, und noch viel weniger zu einer Lehre von
den Thatsachen. Der Gang der Geschichte hat nun diesen letzten Weg
eingeschlagen, und als Statistik gilt nur das Sammeln von Beobach-
tungen und die Darstellung derselben, auf gewisse mehr oder weniger
stichhaltige Einheiten reducirt. Noch ist der Versuch nicht anerkannt,
die Statistik aus diesem modernen und rein praktischen Stadium der
bloßen Kenntnißnahme zu einer bewußten Wissenschaft zu erheben.
Nur auf Einem Punkte liegt ein solcher Versuch vor, und der ist das
Zählungswesen.

Wir glauben die Geschichte der administrativen Statistik, die eigentlich
wohl theoretisch mit Seckendorf, Teutscher Fürstenstaat 1635 (speciell II. c. 5),
beginnt, eben so wenig als die Geschichte der Lehre von den Thatsachen, die
Pascal zuerst mathematisch formulirte, verfolgen zu sollen, als das gründ-
liche Mißverständniß unsres Versuches einer Lehre von den Thatsachen (System
der Staatswissenschaft I.) bei Mohl. Wir würden zugeben, im letzten Punkte
vollkommen unrecht zu haben, wenn in der ganzen Statistik nur Einmal
die Frage untersucht wäre, was denn eigentlich eine "Thatsache" ist. Mohl
hat deßhalb auch die Bedeutung Quetelets und seiner Lettres sur la Pro-
babilite
nicht hervorgehoben. Seine übrigen Angaben (Literatur der Staats-
wissenschaft III. XIX.) sind übrigens eben so reich als zuverlässig.

II. Das Zählungswesen.

Das Zählungswesen enthält die Gesammtheit von Vorschriften und
Maßregeln der Verwaltung, vermöge welcher dieselbe sich ein auf

oder der Wichtigkeit der Thatſachen, ſondern dieſe liegen wie der Be-
griff des Maßes ſelbſt, nur im Menſchen, nicht in den Dingen. Für
ſie gibt es aber auch kein Gebiet, das ſie nicht bewältigen könnte; ihr
gehört alles, und daher gehört ihr auch das Leben des Staats.

Dieſe Wiſſenſchaft der Thatſachen, indem ſie nur auf den Staat
und ſein Leben angewendet wird, iſt die Statiſtik. Die Theorie
der Statiſtik, im Unterſchied von der Wiſſenſchaft der Thatſachen, iſt
demnach wiſſenſchaftlich definirt, die Lehre von der Art und Weiſe, wie
der Staat ſeine Beobachtungen macht, ſeine Durchſchnitte und That-
ſachen feſtſtellt, und durch Unterſuchung der in ſeinem Leben wirkſamen
Urſachen und Wirkungen zum Verſtändniß der Geſetze gelangt, welche
daſſelbe beherrſchen. Das Ergebniß der Statiſtik ſind dann dieſe
nach der Theorie derſelben aufgeſtellten Thatſachen und Geſetze
des Staatslebens
. Das iſt ſehr einfach.

Sobald man nun, wie das meiſtens geſchieht, dieſe Ergebniſſe
ſelbſt als die eigentliche Statiſtik betrachtet, ſo entſteht nicht bloß Ver-
wirrung in den Begriffen, ſondern man gelangt überhaupt nicht zu
einer Theorie der Statiſtik, und noch viel weniger zu einer Lehre von
den Thatſachen. Der Gang der Geſchichte hat nun dieſen letzten Weg
eingeſchlagen, und als Statiſtik gilt nur das Sammeln von Beobach-
tungen und die Darſtellung derſelben, auf gewiſſe mehr oder weniger
ſtichhaltige Einheiten reducirt. Noch iſt der Verſuch nicht anerkannt,
die Statiſtik aus dieſem modernen und rein praktiſchen Stadium der
bloßen Kenntnißnahme zu einer bewußten Wiſſenſchaft zu erheben.
Nur auf Einem Punkte liegt ein ſolcher Verſuch vor, und der iſt das
Zählungsweſen.

Wir glauben die Geſchichte der adminiſtrativen Statiſtik, die eigentlich
wohl theoretiſch mit Seckendorf, Teutſcher Fürſtenſtaat 1635 (ſpeciell II. c. 5),
beginnt, eben ſo wenig als die Geſchichte der Lehre von den Thatſachen, die
Pascal zuerſt mathematiſch formulirte, verfolgen zu ſollen, als das gründ-
liche Mißverſtändniß unſres Verſuches einer Lehre von den Thatſachen (Syſtem
der Staatswiſſenſchaft I.) bei Mohl. Wir würden zugeben, im letzten Punkte
vollkommen unrecht zu haben, wenn in der ganzen Statiſtik nur Einmal
die Frage unterſucht wäre, was denn eigentlich eine „Thatſache“ iſt. Mohl
hat deßhalb auch die Bedeutung Quetelets und ſeiner Lettres sur la Pro-
babilité
nicht hervorgehoben. Seine übrigen Angaben (Literatur der Staats-
wiſſenſchaft III. XIX.) ſind übrigens eben ſo reich als zuverläſſig.

II. Das Zählungsweſen.

Das Zählungsweſen enthält die Geſammtheit von Vorſchriften und
Maßregeln der Verwaltung, vermöge welcher dieſelbe ſich ein auf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0084" n="60"/>
oder der Wichtigkeit der That&#x017F;achen, &#x017F;ondern die&#x017F;e liegen wie der Be-<lb/>
griff des Maßes &#x017F;elb&#x017F;t, nur im Men&#x017F;chen, nicht in den Dingen. Für<lb/>
&#x017F;ie gibt es aber auch kein Gebiet, das &#x017F;ie nicht bewältigen könnte; ihr<lb/>
gehört <hi rendition="#g">alles</hi>, und daher gehört ihr auch das Leben des Staats.</p><lb/>
                  <p>Die&#x017F;e Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der That&#x017F;achen, indem &#x017F;ie nur auf den Staat<lb/>
und &#x017F;ein Leben angewendet wird, i&#x017F;t die <hi rendition="#g">Stati&#x017F;tik</hi>. Die <hi rendition="#g">Theorie</hi><lb/>
der Stati&#x017F;tik, im Unter&#x017F;chied von der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der That&#x017F;achen, i&#x017F;t<lb/>
demnach wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich definirt, die Lehre von der Art und Wei&#x017F;e, wie<lb/>
der Staat &#x017F;eine Beobachtungen macht, &#x017F;eine Durch&#x017F;chnitte und That-<lb/>
&#x017F;achen fe&#x017F;t&#x017F;tellt, und durch Unter&#x017F;uchung der in &#x017F;einem Leben wirk&#x017F;amen<lb/>
Ur&#x017F;achen und Wirkungen zum Ver&#x017F;tändniß der Ge&#x017F;etze gelangt, welche<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe beherr&#x017F;chen. Das <hi rendition="#g">Ergebniß</hi> der Stati&#x017F;tik &#x017F;ind dann die&#x017F;e<lb/>
nach der Theorie der&#x017F;elben aufge&#x017F;tellten <hi rendition="#g">That&#x017F;achen und Ge&#x017F;etze<lb/>
des Staatslebens</hi>. Das i&#x017F;t &#x017F;ehr einfach.</p><lb/>
                  <p>Sobald man nun, wie das mei&#x017F;tens ge&#x017F;chieht, die&#x017F;e <hi rendition="#g">Ergebni&#x017F;&#x017F;e</hi><lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t als die eigentliche Stati&#x017F;tik betrachtet, &#x017F;o ent&#x017F;teht nicht bloß Ver-<lb/>
wirrung in den Begriffen, &#x017F;ondern man gelangt überhaupt nicht zu<lb/>
einer Theorie der Stati&#x017F;tik, und noch viel weniger zu einer Lehre von<lb/>
den That&#x017F;achen. Der Gang der Ge&#x017F;chichte hat nun die&#x017F;en letzten Weg<lb/>
einge&#x017F;chlagen, und als Stati&#x017F;tik gilt <hi rendition="#g">nur</hi> das Sammeln von Beobach-<lb/>
tungen und die Dar&#x017F;tellung der&#x017F;elben, auf gewi&#x017F;&#x017F;e mehr oder weniger<lb/>
&#x017F;tichhaltige Einheiten reducirt. Noch i&#x017F;t der Ver&#x017F;uch nicht anerkannt,<lb/>
die Stati&#x017F;tik aus die&#x017F;em modernen und rein prakti&#x017F;chen Stadium der<lb/>
bloßen Kenntnißnahme zu einer bewußten Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft zu erheben.<lb/>
Nur auf Einem Punkte liegt ein &#x017F;olcher Ver&#x017F;uch vor, und der i&#x017F;t das<lb/>
Zählungswe&#x017F;en.</p><lb/>
                  <p>Wir glauben die Ge&#x017F;chichte der admini&#x017F;trativen Stati&#x017F;tik, die eigentlich<lb/>
wohl theoreti&#x017F;ch mit <hi rendition="#g">Seckendorf</hi>, Teut&#x017F;cher Für&#x017F;ten&#x017F;taat 1635 (&#x017F;peciell <hi rendition="#aq">II. c.</hi> 5),<lb/>
beginnt, eben &#x017F;o wenig als die Ge&#x017F;chichte der Lehre von den That&#x017F;achen, die<lb/><hi rendition="#g">Pascal</hi> zuer&#x017F;t mathemati&#x017F;ch formulirte, verfolgen zu &#x017F;ollen, als das gründ-<lb/>
liche Mißver&#x017F;tändniß <hi rendition="#g">un&#x017F;res</hi> Ver&#x017F;uches einer Lehre von den That&#x017F;achen (Sy&#x017F;tem<lb/>
der Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft <hi rendition="#aq">I.</hi>) bei <hi rendition="#g">Mohl</hi>. Wir würden zugeben, im letzten Punkte<lb/><hi rendition="#g">vollkommen</hi> unrecht zu haben, wenn in der ganzen Stati&#x017F;tik nur Einmal<lb/>
die Frage unter&#x017F;ucht wäre, was denn eigentlich eine &#x201E;That&#x017F;ache&#x201C; i&#x017F;t. <hi rendition="#g">Mohl</hi><lb/>
hat deßhalb auch die Bedeutung <hi rendition="#g">Quetelets</hi> und &#x017F;einer <hi rendition="#aq">Lettres sur la Pro-<lb/>
babilité</hi> nicht hervorgehoben. Seine übrigen Angaben (Literatur der Staats-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft <hi rendition="#aq">III. XIX.</hi>) &#x017F;ind übrigens eben &#x017F;o reich als zuverlä&#x017F;&#x017F;ig.</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Das Zählungswe&#x017F;en.</hi> </head><lb/>
                  <p>Das Zählungswe&#x017F;en enthält die Ge&#x017F;ammtheit von Vor&#x017F;chriften und<lb/>
Maßregeln der Verwaltung, vermöge welcher die&#x017F;elbe &#x017F;ich ein auf<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0084] oder der Wichtigkeit der Thatſachen, ſondern dieſe liegen wie der Be- griff des Maßes ſelbſt, nur im Menſchen, nicht in den Dingen. Für ſie gibt es aber auch kein Gebiet, das ſie nicht bewältigen könnte; ihr gehört alles, und daher gehört ihr auch das Leben des Staats. Dieſe Wiſſenſchaft der Thatſachen, indem ſie nur auf den Staat und ſein Leben angewendet wird, iſt die Statiſtik. Die Theorie der Statiſtik, im Unterſchied von der Wiſſenſchaft der Thatſachen, iſt demnach wiſſenſchaftlich definirt, die Lehre von der Art und Weiſe, wie der Staat ſeine Beobachtungen macht, ſeine Durchſchnitte und That- ſachen feſtſtellt, und durch Unterſuchung der in ſeinem Leben wirkſamen Urſachen und Wirkungen zum Verſtändniß der Geſetze gelangt, welche daſſelbe beherrſchen. Das Ergebniß der Statiſtik ſind dann dieſe nach der Theorie derſelben aufgeſtellten Thatſachen und Geſetze des Staatslebens. Das iſt ſehr einfach. Sobald man nun, wie das meiſtens geſchieht, dieſe Ergebniſſe ſelbſt als die eigentliche Statiſtik betrachtet, ſo entſteht nicht bloß Ver- wirrung in den Begriffen, ſondern man gelangt überhaupt nicht zu einer Theorie der Statiſtik, und noch viel weniger zu einer Lehre von den Thatſachen. Der Gang der Geſchichte hat nun dieſen letzten Weg eingeſchlagen, und als Statiſtik gilt nur das Sammeln von Beobach- tungen und die Darſtellung derſelben, auf gewiſſe mehr oder weniger ſtichhaltige Einheiten reducirt. Noch iſt der Verſuch nicht anerkannt, die Statiſtik aus dieſem modernen und rein praktiſchen Stadium der bloßen Kenntnißnahme zu einer bewußten Wiſſenſchaft zu erheben. Nur auf Einem Punkte liegt ein ſolcher Verſuch vor, und der iſt das Zählungsweſen. Wir glauben die Geſchichte der adminiſtrativen Statiſtik, die eigentlich wohl theoretiſch mit Seckendorf, Teutſcher Fürſtenſtaat 1635 (ſpeciell II. c. 5), beginnt, eben ſo wenig als die Geſchichte der Lehre von den Thatſachen, die Pascal zuerſt mathematiſch formulirte, verfolgen zu ſollen, als das gründ- liche Mißverſtändniß unſres Verſuches einer Lehre von den Thatſachen (Syſtem der Staatswiſſenſchaft I.) bei Mohl. Wir würden zugeben, im letzten Punkte vollkommen unrecht zu haben, wenn in der ganzen Statiſtik nur Einmal die Frage unterſucht wäre, was denn eigentlich eine „Thatſache“ iſt. Mohl hat deßhalb auch die Bedeutung Quetelets und ſeiner Lettres sur la Pro- babilité nicht hervorgehoben. Seine übrigen Angaben (Literatur der Staats- wiſſenſchaft III. XIX.) ſind übrigens eben ſo reich als zuverläſſig. II. Das Zählungsweſen. Das Zählungsweſen enthält die Geſammtheit von Vorſchriften und Maßregeln der Verwaltung, vermöge welcher dieſelbe ſich ein auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/84
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/84>, abgerufen am 19.11.2024.