Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

der Wissenschaft, diese Begriffe aufzulösen, nicht etwa der Form wegen, sondern
weil jede einzelne Erscheinung auf diesem Gebiete eine wesentlich selbständige
Funktion und damit einen selbständigen Organismus hat. Auch hier ist
das Verständniß der organischen Besonderheiten die Grundlage der Beherr-
schung dessen, was wir die "sociale Frage" nennen. Das formale System der
Vereine bei Stein, Vereinswesen und Vereinsrecht.

I. Das Hülfskassen-Wesen.
Funktion derselben.

Unter den Hülfskassen verstehen wir diejenige Gruppe von Ver-
einen, in denen die höhere Classe der niederen ihre Hülfe zur
Bildung des Capitals ihrer Mitglieder anbietet. Die Hülfskassen setzen
daher schon das Bestehen des Classenunterschiedes voraus. Ihre erste
Grundlage ist stets die nationalökonomische der bloßen Sorge für die
Ersparniß in der capitallosen Wirthschaft; sie erscheinen daher im An-
fange stets als Verhinderungsmittel der Armuth, und werden als solche
auch von der Theorie betrachtet. Erst dann, wenn der Classengegensatz
sich ausbildet und mit ihm die Selbsthülfe auftritt, tritt auch für jene
das gesellschaftliche Element hervor, und eben so natürlich ist es, daß
sie sich in dieser zweiten Epoche dieser Selbsthülfe unterordnen, indem
sie jetzt erst ihren wahren Charakter entwickeln. Dieser nun besteht
gegenüber der Selbsthülfe darin, daß sie sehr viel für den Ein-
zelnen
, aber sehr wenig für das Ganze der socialen Frage
zu leisten vermögen, und daher einen großen Werth, aber eine geringe
Macht haben. Ihre Grundformen sind dreifach.

a) Pfand- und Leihanstalten.

Die Creditanstalten für den persönlichen Credit der nicht besitzenden
Classe, oder die Pfand- und Leihanstalten, gehören ihrem for-
malen Begriffe nach der Organisation des Credits, ihrem Inhalte nach
aber dem gesellschaftlichen Leben der nichtbesitzenden Classe. Ihre Auf-
gabe ist wesentlich nicht so sehr die Hülfe zur Bildung von Capitalien,
sondern die Hülfe in augenblicklicher Noth gegen die Ausbeutung
der letzteren durch das Geldcapital
. Sie erscheinen daher als
die gesellschaftliche Creditpolizei für die nichtbesitzende Classe, und bilden
damit den Punkt, wo die Selbstverwaltung als Gemeinde in die
gesellschaftliche Bewegung hinein greift. Sie sind somit zwar das älteste,
aber auch das unterste Stadium der gesellschaftlichen Verwaltung.

S. oben unter Organisation des Credits. Fast von allen unter das
"Armenwesen" gestellt in dem weiteren Sinn, in welchem es noch die gesell-
schaftliche Verwaltung enthält. So Gerando, Monts de piete III. 1. ff.

der Wiſſenſchaft, dieſe Begriffe aufzulöſen, nicht etwa der Form wegen, ſondern
weil jede einzelne Erſcheinung auf dieſem Gebiete eine weſentlich ſelbſtändige
Funktion und damit einen ſelbſtändigen Organismus hat. Auch hier iſt
das Verſtändniß der organiſchen Beſonderheiten die Grundlage der Beherr-
ſchung deſſen, was wir die „ſociale Frage“ nennen. Das formale Syſtem der
Vereine bei Stein, Vereinsweſen und Vereinsrecht.

I. Das Hülfskaſſen-Weſen.
Funktion derſelben.

Unter den Hülfskaſſen verſtehen wir diejenige Gruppe von Ver-
einen, in denen die höhere Claſſe der niederen ihre Hülfe zur
Bildung des Capitals ihrer Mitglieder anbietet. Die Hülfskaſſen ſetzen
daher ſchon das Beſtehen des Claſſenunterſchiedes voraus. Ihre erſte
Grundlage iſt ſtets die nationalökonomiſche der bloßen Sorge für die
Erſparniß in der capitalloſen Wirthſchaft; ſie erſcheinen daher im An-
fange ſtets als Verhinderungsmittel der Armuth, und werden als ſolche
auch von der Theorie betrachtet. Erſt dann, wenn der Claſſengegenſatz
ſich ausbildet und mit ihm die Selbſthülfe auftritt, tritt auch für jene
das geſellſchaftliche Element hervor, und eben ſo natürlich iſt es, daß
ſie ſich in dieſer zweiten Epoche dieſer Selbſthülfe unterordnen, indem
ſie jetzt erſt ihren wahren Charakter entwickeln. Dieſer nun beſteht
gegenüber der Selbſthülfe darin, daß ſie ſehr viel für den Ein-
zelnen
, aber ſehr wenig für das Ganze der ſocialen Frage
zu leiſten vermögen, und daher einen großen Werth, aber eine geringe
Macht haben. Ihre Grundformen ſind dreifach.

a) Pfand- und Leihanſtalten.

Die Creditanſtalten für den perſönlichen Credit der nicht beſitzenden
Claſſe, oder die Pfand- und Leihanſtalten, gehören ihrem for-
malen Begriffe nach der Organiſation des Credits, ihrem Inhalte nach
aber dem geſellſchaftlichen Leben der nichtbeſitzenden Claſſe. Ihre Auf-
gabe iſt weſentlich nicht ſo ſehr die Hülfe zur Bildung von Capitalien,
ſondern die Hülfe in augenblicklicher Noth gegen die Ausbeutung
der letzteren durch das Geldcapital
. Sie erſcheinen daher als
die geſellſchaftliche Creditpolizei für die nichtbeſitzende Claſſe, und bilden
damit den Punkt, wo die Selbſtverwaltung als Gemeinde in die
geſellſchaftliche Bewegung hinein greift. Sie ſind ſomit zwar das älteſte,
aber auch das unterſte Stadium der geſellſchaftlichen Verwaltung.

S. oben unter Organiſation des Credits. Faſt von allen unter das
„Armenweſen“ geſtellt in dem weiteren Sinn, in welchem es noch die geſell-
ſchaftliche Verwaltung enthält. So Gerando, Monts de piété III. 1. ff.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0470" n="446"/>
der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, die&#x017F;e Begriffe aufzulö&#x017F;en, nicht etwa der Form wegen, &#x017F;ondern<lb/>
weil jede einzelne Er&#x017F;cheinung auf die&#x017F;em Gebiete eine we&#x017F;entlich &#x017F;elb&#x017F;tändige<lb/><hi rendition="#g">Funktion</hi> und damit einen &#x017F;elb&#x017F;tändigen Organismus hat. Auch hier i&#x017F;t<lb/>
das Ver&#x017F;tändniß der organi&#x017F;chen Be&#x017F;onderheiten die Grundlage der Beherr-<lb/>
&#x017F;chung de&#x017F;&#x017F;en, was wir die &#x201E;&#x017F;ociale Frage&#x201C; nennen. Das formale Sy&#x017F;tem der<lb/>
Vereine bei <hi rendition="#g">Stein</hi>, Vereinswe&#x017F;en und Vereinsrecht.</p><lb/>
              <div n="5">
                <head><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Das Hülfska&#x017F;&#x017F;en-We&#x017F;en.</hi><lb/>
Funktion der&#x017F;elben.</head><lb/>
                <p>Unter den Hülfska&#x017F;&#x017F;en ver&#x017F;tehen wir diejenige Gruppe von Ver-<lb/>
einen, <hi rendition="#g">in denen die höhere Cla&#x017F;&#x017F;e der niederen</hi> ihre Hülfe zur<lb/>
Bildung des Capitals ihrer Mitglieder anbietet. Die Hülfska&#x017F;&#x017F;en &#x017F;etzen<lb/>
daher &#x017F;chon das Be&#x017F;tehen des Cla&#x017F;&#x017F;enunter&#x017F;chiedes voraus. Ihre er&#x017F;te<lb/>
Grundlage i&#x017F;t &#x017F;tets die nationalökonomi&#x017F;che der bloßen Sorge für die<lb/>
Er&#x017F;parniß in der capitallo&#x017F;en Wirth&#x017F;chaft; &#x017F;ie er&#x017F;cheinen daher im An-<lb/>
fange &#x017F;tets als Verhinderungsmittel der Armuth, und werden als &#x017F;olche<lb/>
auch von der Theorie betrachtet. Er&#x017F;t dann, wenn der Cla&#x017F;&#x017F;engegen&#x017F;atz<lb/>
&#x017F;ich ausbildet und mit ihm die Selb&#x017F;thülfe auftritt, tritt auch für jene<lb/>
das ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Element hervor, und eben &#x017F;o natürlich i&#x017F;t es, daß<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich in die&#x017F;er zweiten Epoche die&#x017F;er Selb&#x017F;thülfe unterordnen, indem<lb/>
&#x017F;ie jetzt er&#x017F;t ihren wahren Charakter entwickeln. Die&#x017F;er nun be&#x017F;teht<lb/>
gegenüber der Selb&#x017F;thülfe darin, daß &#x017F;ie <hi rendition="#g">&#x017F;ehr viel für den Ein-<lb/>
zelnen</hi>, aber <hi rendition="#g">&#x017F;ehr wenig für das Ganze der &#x017F;ocialen Frage</hi><lb/>
zu lei&#x017F;ten vermögen, und daher einen großen Werth, aber eine geringe<lb/>
Macht haben. Ihre Grundformen &#x017F;ind dreifach.</p><lb/>
                <div n="6">
                  <head><hi rendition="#aq">a)</hi> Pfand- und Leihan&#x017F;talten.</head><lb/>
                  <p>Die Creditan&#x017F;talten für den per&#x017F;önlichen Credit der nicht be&#x017F;itzenden<lb/>
Cla&#x017F;&#x017F;e, oder die <hi rendition="#g">Pfand- und Leihan&#x017F;talten</hi>, gehören ihrem for-<lb/>
malen Begriffe nach der Organi&#x017F;ation des Credits, ihrem Inhalte nach<lb/>
aber dem ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Leben der nichtbe&#x017F;itzenden Cla&#x017F;&#x017F;e. Ihre Auf-<lb/>
gabe i&#x017F;t we&#x017F;entlich nicht &#x017F;o &#x017F;ehr die Hülfe zur Bildung von Capitalien,<lb/>
&#x017F;ondern die Hülfe in augenblicklicher Noth gegen <hi rendition="#g">die Ausbeutung<lb/>
der letzteren durch das Geldcapital</hi>. Sie er&#x017F;cheinen daher als<lb/>
die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Creditpolizei für die nichtbe&#x017F;itzende Cla&#x017F;&#x017F;e, und bilden<lb/>
damit den Punkt, wo die <hi rendition="#g">Selb&#x017F;tverwaltung</hi> als Gemeinde in die<lb/>
ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Bewegung hinein greift. Sie &#x017F;ind &#x017F;omit zwar das älte&#x017F;te,<lb/>
aber auch das unter&#x017F;te Stadium der ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Verwaltung.</p><lb/>
                  <p>S. oben unter Organi&#x017F;ation des Credits. Fa&#x017F;t von allen unter das<lb/>
&#x201E;Armenwe&#x017F;en&#x201C; ge&#x017F;tellt in dem weiteren Sinn, in welchem es noch die ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaftliche Verwaltung enthält. So <hi rendition="#g">Gerando</hi>, <hi rendition="#aq">Monts de piété III.</hi> 1. ff.<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[446/0470] der Wiſſenſchaft, dieſe Begriffe aufzulöſen, nicht etwa der Form wegen, ſondern weil jede einzelne Erſcheinung auf dieſem Gebiete eine weſentlich ſelbſtändige Funktion und damit einen ſelbſtändigen Organismus hat. Auch hier iſt das Verſtändniß der organiſchen Beſonderheiten die Grundlage der Beherr- ſchung deſſen, was wir die „ſociale Frage“ nennen. Das formale Syſtem der Vereine bei Stein, Vereinsweſen und Vereinsrecht. I. Das Hülfskaſſen-Weſen. Funktion derſelben. Unter den Hülfskaſſen verſtehen wir diejenige Gruppe von Ver- einen, in denen die höhere Claſſe der niederen ihre Hülfe zur Bildung des Capitals ihrer Mitglieder anbietet. Die Hülfskaſſen ſetzen daher ſchon das Beſtehen des Claſſenunterſchiedes voraus. Ihre erſte Grundlage iſt ſtets die nationalökonomiſche der bloßen Sorge für die Erſparniß in der capitalloſen Wirthſchaft; ſie erſcheinen daher im An- fange ſtets als Verhinderungsmittel der Armuth, und werden als ſolche auch von der Theorie betrachtet. Erſt dann, wenn der Claſſengegenſatz ſich ausbildet und mit ihm die Selbſthülfe auftritt, tritt auch für jene das geſellſchaftliche Element hervor, und eben ſo natürlich iſt es, daß ſie ſich in dieſer zweiten Epoche dieſer Selbſthülfe unterordnen, indem ſie jetzt erſt ihren wahren Charakter entwickeln. Dieſer nun beſteht gegenüber der Selbſthülfe darin, daß ſie ſehr viel für den Ein- zelnen, aber ſehr wenig für das Ganze der ſocialen Frage zu leiſten vermögen, und daher einen großen Werth, aber eine geringe Macht haben. Ihre Grundformen ſind dreifach. a) Pfand- und Leihanſtalten. Die Creditanſtalten für den perſönlichen Credit der nicht beſitzenden Claſſe, oder die Pfand- und Leihanſtalten, gehören ihrem for- malen Begriffe nach der Organiſation des Credits, ihrem Inhalte nach aber dem geſellſchaftlichen Leben der nichtbeſitzenden Claſſe. Ihre Auf- gabe iſt weſentlich nicht ſo ſehr die Hülfe zur Bildung von Capitalien, ſondern die Hülfe in augenblicklicher Noth gegen die Ausbeutung der letzteren durch das Geldcapital. Sie erſcheinen daher als die geſellſchaftliche Creditpolizei für die nichtbeſitzende Claſſe, und bilden damit den Punkt, wo die Selbſtverwaltung als Gemeinde in die geſellſchaftliche Bewegung hinein greift. Sie ſind ſomit zwar das älteſte, aber auch das unterſte Stadium der geſellſchaftlichen Verwaltung. S. oben unter Organiſation des Credits. Faſt von allen unter das „Armenweſen“ geſtellt in dem weiteren Sinn, in welchem es noch die geſell- ſchaftliche Verwaltung enthält. So Gerando, Monts de piété III. 1. ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/470
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/470>, abgerufen am 19.11.2024.