Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite
B. Das Armenrecht.

Während nun der Organismus des Armenwesens die Funktion
des Staats in Beziehung auf den Zustand der Armuth organisirt,
enthält das Armenrecht die Gesammtheit der Bestimmungen, nach
welchen der Einzelne berechtigt ist, an dieser unterstützenden Thätig-
keit des Ganzen Theil zu nehmen. Dieß Armenrecht zerfällt in drei
Gebiete.

I. Das Heimathsrecht enthält die Grundsätze, nach denen
durch dauernde Niederlassung das Recht des Einzelnen auf Unterstützung
gegen eine Gemeinde als Armenverwaltungskörper gewonnen wird.
Das Heimathsrecht ist daher im Grunde nur die Anwendung der
Grundsätze der Angehörigkeit an die Gemeinde für die Armen-
pflege. Es unterscheidet sich jedoch wesentlich von den letzteren dadurch,
daß es auch gegen den Willen der Gemeinde gewonnen werden kann,
und daher ein objektives Rechtsverhältniß für dieselbe bildet. Daher
langer und fast immer in derselben Weise sich bewegender Kampf um
die Frage, auf welchem Punkt dieß Recht der Heimath gewonnen wird,
und vielfaches Schwanken der Gesetzgebung. Die Grundzüge, auf denen
dasselbe beruht, sind jedoch einfach, sobald die Gebundenheit an die
Scholle mit dem Siege der staatsbürgerlichen Gesellschaft aufhört.
Grundlage ist, daß so lange keine andere Heimath gewonnen ist, der
Geburtsort die natürliche Heimath bildet. Die freie Bewegung von
einer Gemeinde zur andern ist die Freizügigkeit, die als freies
Niederlassungsrecht erscheint. Wenn diese Niederlassung eine ge-
setzlich bestimmte Zeit gedauert hat, so erzeugt sie ohne bestimmten
Akt das Heimaths- und damit das Armenrecht. Die eigentliche
Frage bewegt sich also nur darum, erstlich, was als Niederlassung
anzusehen sei (z. B. wann Dienst und Arbeit die Niederlassung ent-
halten) und zweitens, ob die Gemeinde, und unter welchen Bedingungen
sie das Recht hat, a) die Auswärtigen während der Zeit der Nieder-
lassung in ihre frühere Heimath zu befördern, und b) die etwa gemach-
ten Auslagen für die während dieser Zeit unterstützten Armen der
Heimathsgemeinde aufzurechnen. Die Gesetzgebungen sind auf diesem
Punkte sehr genau und oft sehr hart, und an diesen faßbaren Gegen-
stand hat sich daher eine förmliche Jurisprudenz des Armenrechts an-
geschlossen, die dem folgenden Punkte fehlt.

II. Das Armenrecht im eigenen Sinne ist nun das durch
die Heimath für den einzelnen Armen erworbene Recht auf die
Unterstützung
selbst. Die Grundlage dafür ist die Aufnahme in
das Armenregister, der Inhalt ist ein Privatrecht auf den Bezug der

B. Das Armenrecht.

Während nun der Organismus des Armenweſens die Funktion
des Staats in Beziehung auf den Zuſtand der Armuth organiſirt,
enthält das Armenrecht die Geſammtheit der Beſtimmungen, nach
welchen der Einzelne berechtigt iſt, an dieſer unterſtützenden Thätig-
keit des Ganzen Theil zu nehmen. Dieß Armenrecht zerfällt in drei
Gebiete.

I. Das Heimathsrecht enthält die Grundſätze, nach denen
durch dauernde Niederlaſſung das Recht des Einzelnen auf Unterſtützung
gegen eine Gemeinde als Armenverwaltungskörper gewonnen wird.
Das Heimathsrecht iſt daher im Grunde nur die Anwendung der
Grundſätze der Angehörigkeit an die Gemeinde für die Armen-
pflege. Es unterſcheidet ſich jedoch weſentlich von den letzteren dadurch,
daß es auch gegen den Willen der Gemeinde gewonnen werden kann,
und daher ein objektives Rechtsverhältniß für dieſelbe bildet. Daher
langer und faſt immer in derſelben Weiſe ſich bewegender Kampf um
die Frage, auf welchem Punkt dieß Recht der Heimath gewonnen wird,
und vielfaches Schwanken der Geſetzgebung. Die Grundzüge, auf denen
daſſelbe beruht, ſind jedoch einfach, ſobald die Gebundenheit an die
Scholle mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft aufhört.
Grundlage iſt, daß ſo lange keine andere Heimath gewonnen iſt, der
Geburtsort die natürliche Heimath bildet. Die freie Bewegung von
einer Gemeinde zur andern iſt die Freizügigkeit, die als freies
Niederlaſſungsrecht erſcheint. Wenn dieſe Niederlaſſung eine ge-
ſetzlich beſtimmte Zeit gedauert hat, ſo erzeugt ſie ohne beſtimmten
Akt das Heimaths- und damit das Armenrecht. Die eigentliche
Frage bewegt ſich alſo nur darum, erſtlich, was als Niederlaſſung
anzuſehen ſei (z. B. wann Dienſt und Arbeit die Niederlaſſung ent-
halten) und zweitens, ob die Gemeinde, und unter welchen Bedingungen
ſie das Recht hat, a) die Auswärtigen während der Zeit der Nieder-
laſſung in ihre frühere Heimath zu befördern, und b) die etwa gemach-
ten Auslagen für die während dieſer Zeit unterſtützten Armen der
Heimathsgemeinde aufzurechnen. Die Geſetzgebungen ſind auf dieſem
Punkte ſehr genau und oft ſehr hart, und an dieſen faßbaren Gegen-
ſtand hat ſich daher eine förmliche Jurisprudenz des Armenrechts an-
geſchloſſen, die dem folgenden Punkte fehlt.

II. Das Armenrecht im eigenen Sinne iſt nun das durch
die Heimath für den einzelnen Armen erworbene Recht auf die
Unterſtützung
ſelbſt. Die Grundlage dafür iſt die Aufnahme in
das Armenregiſter, der Inhalt iſt ein Privatrecht auf den Bezug der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0454" n="430"/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">B.</hi> Das Armenrecht.</hi> </head><lb/>
                  <p>Während nun der Organismus des Armenwe&#x017F;ens die Funktion<lb/>
des Staats in Beziehung auf den Zu&#x017F;tand der Armuth organi&#x017F;irt,<lb/>
enthält das <hi rendition="#g">Armenrecht</hi> die Ge&#x017F;ammtheit der Be&#x017F;timmungen, nach<lb/>
welchen der <hi rendition="#g">Einzelne berechtigt</hi> i&#x017F;t, an die&#x017F;er unter&#x017F;tützenden Thätig-<lb/>
keit des Ganzen Theil zu nehmen. Dieß Armenrecht zerfällt in drei<lb/>
Gebiete.</p><lb/>
                  <p><hi rendition="#aq">I.</hi> Das <hi rendition="#g">Heimathsrecht</hi> enthält die Grund&#x017F;ätze, nach denen<lb/>
durch dauernde Niederla&#x017F;&#x017F;ung das Recht des Einzelnen auf Unter&#x017F;tützung<lb/>
gegen eine Gemeinde als Armenverwaltungskörper gewonnen wird.<lb/>
Das Heimathsrecht i&#x017F;t daher im Grunde nur die Anwendung der<lb/><hi rendition="#g">Grund&#x017F;ätze der Angehörigkeit</hi> an die Gemeinde für die Armen-<lb/>
pflege. Es unter&#x017F;cheidet &#x017F;ich jedoch we&#x017F;entlich von den letzteren dadurch,<lb/>
daß es auch <hi rendition="#g">gegen</hi> den Willen der Gemeinde gewonnen werden kann,<lb/>
und daher ein objektives Rechtsverhältniß für die&#x017F;elbe bildet. Daher<lb/>
langer und fa&#x017F;t immer in der&#x017F;elben Wei&#x017F;e &#x017F;ich bewegender Kampf um<lb/>
die Frage, auf welchem Punkt dieß Recht der Heimath gewonnen wird,<lb/>
und vielfaches Schwanken der Ge&#x017F;etzgebung. Die Grundzüge, auf denen<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe beruht, &#x017F;ind jedoch einfach, &#x017F;obald die Gebundenheit an die<lb/>
Scholle mit dem Siege der &#x017F;taatsbürgerlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft aufhört.<lb/>
Grundlage i&#x017F;t, daß <hi rendition="#g">&#x017F;o lange</hi> keine andere Heimath gewonnen i&#x017F;t, der<lb/><hi rendition="#g">Geburtsort</hi> die natürliche Heimath bildet. Die freie Bewegung von<lb/>
einer Gemeinde zur andern i&#x017F;t die <hi rendition="#g">Freizügigkeit</hi>, die als freies<lb/><hi rendition="#g">Niederla&#x017F;&#x017F;ungsrecht</hi> er&#x017F;cheint. Wenn die&#x017F;e Niederla&#x017F;&#x017F;ung eine ge-<lb/>
&#x017F;etzlich be&#x017F;timmte Zeit gedauert hat, &#x017F;o erzeugt &#x017F;ie ohne be&#x017F;timmten<lb/>
Akt das Heimaths- und damit das <hi rendition="#g">Armenrecht</hi>. Die eigentliche<lb/>
Frage bewegt &#x017F;ich al&#x017F;o nur darum, er&#x017F;tlich, was als Niederla&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
anzu&#x017F;ehen &#x017F;ei (z. B. wann Dien&#x017F;t und Arbeit die Niederla&#x017F;&#x017F;ung ent-<lb/>
halten) und zweitens, ob die Gemeinde, und unter welchen Bedingungen<lb/>
&#x017F;ie das Recht hat, <hi rendition="#aq">a</hi>) die Auswärtigen <hi rendition="#g">während</hi> der Zeit der Nieder-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;ung in ihre frühere Heimath zu befördern, und <hi rendition="#aq">b</hi>) die etwa gemach-<lb/>
ten Auslagen für die während die&#x017F;er Zeit unter&#x017F;tützten Armen der<lb/>
Heimathsgemeinde <hi rendition="#g">aufzurechnen</hi>. Die Ge&#x017F;etzgebungen &#x017F;ind auf die&#x017F;em<lb/>
Punkte &#x017F;ehr genau und oft &#x017F;ehr hart, und an die&#x017F;en faßbaren Gegen-<lb/>
&#x017F;tand hat &#x017F;ich daher eine förmliche Jurisprudenz des Armenrechts an-<lb/>
ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, die dem folgenden Punkte fehlt.</p><lb/>
                  <p><hi rendition="#aq">II.</hi> Das <hi rendition="#g">Armenrecht im eigenen</hi> Sinne i&#x017F;t nun das <hi rendition="#g">durch</hi><lb/>
die Heimath für den einzelnen Armen erworbene <hi rendition="#g">Recht auf die<lb/>
Unter&#x017F;tützung</hi> &#x017F;elb&#x017F;t. Die Grundlage dafür i&#x017F;t die <hi rendition="#g">Aufnahme</hi> in<lb/>
das Armenregi&#x017F;ter, der Inhalt i&#x017F;t ein Privatrecht auf den <hi rendition="#g">Bezug</hi> der<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[430/0454] B. Das Armenrecht. Während nun der Organismus des Armenweſens die Funktion des Staats in Beziehung auf den Zuſtand der Armuth organiſirt, enthält das Armenrecht die Geſammtheit der Beſtimmungen, nach welchen der Einzelne berechtigt iſt, an dieſer unterſtützenden Thätig- keit des Ganzen Theil zu nehmen. Dieß Armenrecht zerfällt in drei Gebiete. I. Das Heimathsrecht enthält die Grundſätze, nach denen durch dauernde Niederlaſſung das Recht des Einzelnen auf Unterſtützung gegen eine Gemeinde als Armenverwaltungskörper gewonnen wird. Das Heimathsrecht iſt daher im Grunde nur die Anwendung der Grundſätze der Angehörigkeit an die Gemeinde für die Armen- pflege. Es unterſcheidet ſich jedoch weſentlich von den letzteren dadurch, daß es auch gegen den Willen der Gemeinde gewonnen werden kann, und daher ein objektives Rechtsverhältniß für dieſelbe bildet. Daher langer und faſt immer in derſelben Weiſe ſich bewegender Kampf um die Frage, auf welchem Punkt dieß Recht der Heimath gewonnen wird, und vielfaches Schwanken der Geſetzgebung. Die Grundzüge, auf denen daſſelbe beruht, ſind jedoch einfach, ſobald die Gebundenheit an die Scholle mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft aufhört. Grundlage iſt, daß ſo lange keine andere Heimath gewonnen iſt, der Geburtsort die natürliche Heimath bildet. Die freie Bewegung von einer Gemeinde zur andern iſt die Freizügigkeit, die als freies Niederlaſſungsrecht erſcheint. Wenn dieſe Niederlaſſung eine ge- ſetzlich beſtimmte Zeit gedauert hat, ſo erzeugt ſie ohne beſtimmten Akt das Heimaths- und damit das Armenrecht. Die eigentliche Frage bewegt ſich alſo nur darum, erſtlich, was als Niederlaſſung anzuſehen ſei (z. B. wann Dienſt und Arbeit die Niederlaſſung ent- halten) und zweitens, ob die Gemeinde, und unter welchen Bedingungen ſie das Recht hat, a) die Auswärtigen während der Zeit der Nieder- laſſung in ihre frühere Heimath zu befördern, und b) die etwa gemach- ten Auslagen für die während dieſer Zeit unterſtützten Armen der Heimathsgemeinde aufzurechnen. Die Geſetzgebungen ſind auf dieſem Punkte ſehr genau und oft ſehr hart, und an dieſen faßbaren Gegen- ſtand hat ſich daher eine förmliche Jurisprudenz des Armenrechts an- geſchloſſen, die dem folgenden Punkte fehlt. II. Das Armenrecht im eigenen Sinne iſt nun das durch die Heimath für den einzelnen Armen erworbene Recht auf die Unterſtützung ſelbſt. Die Grundlage dafür iſt die Aufnahme in das Armenregiſter, der Inhalt iſt ein Privatrecht auf den Bezug der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/454
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/454>, abgerufen am 22.12.2024.