Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschichte der Menschheit erfüllt; Entstehung des organischen Begriffes der Gesell-
schaft. Es ist hier nicht der Ort zur Kritik. (Literatur: Stein, Geschichte der
socialen Bewegung und dessen System der Staatswissenschaft; Coster, System
der Gesellschaftswissenschaft 1855; Treitschke, Gesellschaftswissenschaft 1859.)

Das Gesellschaftsrecht.

So klar nun auch jene Elemente an sich sind, so wird dennoch
das Ganze erst da faßbar, wo dasselbe zu einem Rechtssysteme wird.

Die Grundlage dieses Rechts der Gesellschaft besteht darin, daß
die Bedingungen, welche den Unterschied erzeugen und damit der leben-
digen Wechselwirkung zum Grunde liegen, als geistige oder wirthschaft-
liche Güter Gegenstand des Rechts sind, und daß daher die Wirkungen,
welche die Vertheilung hat, gleichfalls das rechtliche Element in sich
aufnehmen. Indem der Einzelne ein bestimmtes Gut hat, empfängt
er mit dem Recht auf dasselbe auch das Recht auf die Wirkung desselben,
seine gesellschaftliche Stellung; in dem Recht auf das erstere besitzt und
vertheidigt er das Recht auf die zweite; und da das zweite das höhere
ist, so ergibt sich bald, daß er das erstere um des zweiten willen
vertheidigt. So entsteht das, was wir als die Grundlage aller
Rechtsbildung anerkennen müssen, daß nämlich in jedem Rechte auf
jedes Gut zugleich ein, und zwar an sich herrschendes gesellschaft-
liches Element enthalten ist, so daß in Wahrheit das gesammte Rechts-
leben als eine durch die Ordnung der Gesellschaft beherrschte
Rechtsordnung
erscheint; das reine Recht kommt dadurch nie zur
allein gültigen Erscheinung, sondern jedes geltende Recht ist stets und
unbedingt das Ergebniß der Wechselwirkung des reinen und gleichen
Wesens aller Persönlichkeit an sich und der gesellschaftlichen Persönlich-
keit. Demgemäß sagen wir, daß die Rechtsphilosophie das Recht
lehrt, in so ferne es aus dem reinen Wesen der Persönlichkeit folgt,
während die Rechtswissenschaft das lebendige Recht in seinem posi-
tiven Verhältniß zum wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zur
Erkenntniß bringt. Das nun führt hinüber auf ein anderes Gebiet.

Allein es ist klar, daß hier das reine und das gesellschaftliche
Recht so innig verschmolzen sind, daß das letztere noch zu keiner selbst-
ständigen Darstellung gelangen kann. Das nun geschieht erst da,
wo die gesellschaftlichen Elemente nicht mehr durch ihre selbstwirkende
Kraft das Recht bilden, sondern wo die gesellschaftlichen Ordnungen
mit Bewußtsein und Willen in die Rechtsbildung hineingreifen. Das
wiederum kann nur da geschehen, wo diese gesellschaftlichen Ordnungen
sich der rechtsbildenden Kraft des Staats bemächtigen. Das Interesse,

Geſchichte der Menſchheit erfüllt; Entſtehung des organiſchen Begriffes der Geſell-
ſchaft. Es iſt hier nicht der Ort zur Kritik. (Literatur: Stein, Geſchichte der
ſocialen Bewegung und deſſen Syſtem der Staatswiſſenſchaft; Coſter, Syſtem
der Geſellſchaftswiſſenſchaft 1855; Treitſchke, Geſellſchaftswiſſenſchaft 1859.)

Das Geſellſchaftsrecht.

So klar nun auch jene Elemente an ſich ſind, ſo wird dennoch
das Ganze erſt da faßbar, wo daſſelbe zu einem Rechtsſyſteme wird.

Die Grundlage dieſes Rechts der Geſellſchaft beſteht darin, daß
die Bedingungen, welche den Unterſchied erzeugen und damit der leben-
digen Wechſelwirkung zum Grunde liegen, als geiſtige oder wirthſchaft-
liche Güter Gegenſtand des Rechts ſind, und daß daher die Wirkungen,
welche die Vertheilung hat, gleichfalls das rechtliche Element in ſich
aufnehmen. Indem der Einzelne ein beſtimmtes Gut hat, empfängt
er mit dem Recht auf daſſelbe auch das Recht auf die Wirkung deſſelben,
ſeine geſellſchaftliche Stellung; in dem Recht auf das erſtere beſitzt und
vertheidigt er das Recht auf die zweite; und da das zweite das höhere
iſt, ſo ergibt ſich bald, daß er das erſtere um des zweiten willen
vertheidigt. So entſteht das, was wir als die Grundlage aller
Rechtsbildung anerkennen müſſen, daß nämlich in jedem Rechte auf
jedes Gut zugleich ein, und zwar an ſich herrſchendes geſellſchaft-
liches Element enthalten iſt, ſo daß in Wahrheit das geſammte Rechts-
leben als eine durch die Ordnung der Geſellſchaft beherrſchte
Rechtsordnung
erſcheint; das reine Recht kommt dadurch nie zur
allein gültigen Erſcheinung, ſondern jedes geltende Recht iſt ſtets und
unbedingt das Ergebniß der Wechſelwirkung des reinen und gleichen
Weſens aller Perſönlichkeit an ſich und der geſellſchaftlichen Perſönlich-
keit. Demgemäß ſagen wir, daß die Rechtsphiloſophie das Recht
lehrt, in ſo ferne es aus dem reinen Weſen der Perſönlichkeit folgt,
während die Rechtswiſſenſchaft das lebendige Recht in ſeinem poſi-
tiven Verhältniß zum wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Leben zur
Erkenntniß bringt. Das nun führt hinüber auf ein anderes Gebiet.

Allein es iſt klar, daß hier das reine und das geſellſchaftliche
Recht ſo innig verſchmolzen ſind, daß das letztere noch zu keiner ſelbſt-
ſtändigen Darſtellung gelangen kann. Das nun geſchieht erſt da,
wo die geſellſchaftlichen Elemente nicht mehr durch ihre ſelbſtwirkende
Kraft das Recht bilden, ſondern wo die geſellſchaftlichen Ordnungen
mit Bewußtſein und Willen in die Rechtsbildung hineingreifen. Das
wiederum kann nur da geſchehen, wo dieſe geſellſchaftlichen Ordnungen
ſich der rechtsbildenden Kraft des Staats bemächtigen. Das Intereſſe,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0420" n="396"/>
Ge&#x017F;chichte der Men&#x017F;chheit erfüllt; Ent&#x017F;tehung des organi&#x017F;chen Begriffes der Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft. Es i&#x017F;t hier nicht der Ort zur Kritik. (Literatur: <hi rendition="#g">Stein</hi>, Ge&#x017F;chichte der<lb/>
&#x017F;ocialen Bewegung und <hi rendition="#g">de&#x017F;&#x017F;en</hi> Sy&#x017F;tem der Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft; <hi rendition="#g">Co&#x017F;ter</hi>, Sy&#x017F;tem<lb/>
der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft 1855; <hi rendition="#g">Treit&#x017F;chke</hi>, Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft 1859.)</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Das Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsrecht.</hi> </head><lb/>
            <p>So klar nun auch jene Elemente an &#x017F;ich &#x017F;ind, &#x017F;o wird dennoch<lb/>
das Ganze er&#x017F;t da faßbar, wo da&#x017F;&#x017F;elbe zu einem <hi rendition="#g">Rechts&#x017F;y&#x017F;teme</hi> wird.</p><lb/>
            <p>Die <hi rendition="#g">Grundlage</hi> die&#x017F;es Rechts der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft be&#x017F;teht darin, daß<lb/>
die Bedingungen, welche den Unter&#x017F;chied erzeugen und damit der leben-<lb/>
digen Wech&#x017F;elwirkung zum Grunde liegen, als gei&#x017F;tige oder wirth&#x017F;chaft-<lb/>
liche Güter Gegen&#x017F;tand des Rechts &#x017F;ind, und daß daher die <hi rendition="#g">Wirkungen</hi>,<lb/>
welche die Vertheilung hat, gleichfalls das rechtliche Element in &#x017F;ich<lb/>
aufnehmen. <hi rendition="#g">Indem</hi> der Einzelne ein be&#x017F;timmtes <hi rendition="#g">Gut</hi> hat, empfängt<lb/>
er mit dem Recht auf da&#x017F;&#x017F;elbe auch das Recht auf die Wirkung de&#x017F;&#x017F;elben,<lb/>
&#x017F;eine ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Stellung; in dem Recht auf das er&#x017F;tere be&#x017F;itzt und<lb/>
vertheidigt er das Recht auf die zweite; und da das zweite das höhere<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;o ergibt &#x017F;ich bald, daß er das er&#x017F;tere <hi rendition="#g">um des zweiten willen</hi><lb/>
vertheidigt. So ent&#x017F;teht das, was wir als die <hi rendition="#g">Grundlage</hi> aller<lb/>
Rechtsbildung anerkennen mü&#x017F;&#x017F;en, daß nämlich in jedem Rechte auf<lb/>
jedes Gut zugleich ein, und zwar an &#x017F;ich <hi rendition="#g">herr&#x017F;chendes</hi> ge&#x017F;ell&#x017F;chaft-<lb/>
liches Element enthalten i&#x017F;t, &#x017F;o daß in Wahrheit das ge&#x017F;ammte Rechts-<lb/>
leben als eine durch <hi rendition="#g">die Ordnung der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft beherr&#x017F;chte<lb/>
Rechtsordnung</hi> er&#x017F;cheint; das reine Recht kommt dadurch <hi rendition="#g">nie</hi> zur<lb/>
allein gültigen Er&#x017F;cheinung, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">jedes</hi> geltende Recht i&#x017F;t &#x017F;tets und<lb/>
unbedingt das Ergebniß der Wech&#x017F;elwirkung des reinen und gleichen<lb/>
We&#x017F;ens aller Per&#x017F;önlichkeit an &#x017F;ich und der ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Per&#x017F;önlich-<lb/>
keit. Demgemäß &#x017F;agen wir, daß die <hi rendition="#g">Rechtsphilo&#x017F;ophie</hi> das Recht<lb/>
lehrt, in &#x017F;o ferne es aus dem reinen We&#x017F;en der Per&#x017F;önlichkeit folgt,<lb/>
während die <hi rendition="#g">Rechtswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft</hi> das lebendige Recht in &#x017F;einem po&#x017F;i-<lb/>
tiven Verhältniß zum wirth&#x017F;chaftlichen und ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Leben zur<lb/>
Erkenntniß bringt. Das nun führt hinüber auf ein anderes Gebiet.</p><lb/>
            <p>Allein es i&#x017F;t klar, daß hier das reine und das ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche<lb/>
Recht &#x017F;o innig ver&#x017F;chmolzen &#x017F;ind, daß das letztere noch zu keiner &#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;tändigen Dar&#x017F;tellung gelangen kann. Das nun ge&#x017F;chieht er&#x017F;t da,<lb/>
wo die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Elemente nicht mehr durch ihre &#x017F;elb&#x017F;twirkende<lb/>
Kraft das Recht bilden, &#x017F;ondern wo die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Ordnungen<lb/>
mit Bewußt&#x017F;ein und Willen in die Rechtsbildung hineingreifen. Das<lb/>
wiederum kann nur da ge&#x017F;chehen, wo die&#x017F;e ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Ordnungen<lb/>
&#x017F;ich der rechtsbildenden Kraft des <hi rendition="#g">Staats</hi> bemächtigen. Das Intere&#x017F;&#x017F;e,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[396/0420] Geſchichte der Menſchheit erfüllt; Entſtehung des organiſchen Begriffes der Geſell- ſchaft. Es iſt hier nicht der Ort zur Kritik. (Literatur: Stein, Geſchichte der ſocialen Bewegung und deſſen Syſtem der Staatswiſſenſchaft; Coſter, Syſtem der Geſellſchaftswiſſenſchaft 1855; Treitſchke, Geſellſchaftswiſſenſchaft 1859.) Das Geſellſchaftsrecht. So klar nun auch jene Elemente an ſich ſind, ſo wird dennoch das Ganze erſt da faßbar, wo daſſelbe zu einem Rechtsſyſteme wird. Die Grundlage dieſes Rechts der Geſellſchaft beſteht darin, daß die Bedingungen, welche den Unterſchied erzeugen und damit der leben- digen Wechſelwirkung zum Grunde liegen, als geiſtige oder wirthſchaft- liche Güter Gegenſtand des Rechts ſind, und daß daher die Wirkungen, welche die Vertheilung hat, gleichfalls das rechtliche Element in ſich aufnehmen. Indem der Einzelne ein beſtimmtes Gut hat, empfängt er mit dem Recht auf daſſelbe auch das Recht auf die Wirkung deſſelben, ſeine geſellſchaftliche Stellung; in dem Recht auf das erſtere beſitzt und vertheidigt er das Recht auf die zweite; und da das zweite das höhere iſt, ſo ergibt ſich bald, daß er das erſtere um des zweiten willen vertheidigt. So entſteht das, was wir als die Grundlage aller Rechtsbildung anerkennen müſſen, daß nämlich in jedem Rechte auf jedes Gut zugleich ein, und zwar an ſich herrſchendes geſellſchaft- liches Element enthalten iſt, ſo daß in Wahrheit das geſammte Rechts- leben als eine durch die Ordnung der Geſellſchaft beherrſchte Rechtsordnung erſcheint; das reine Recht kommt dadurch nie zur allein gültigen Erſcheinung, ſondern jedes geltende Recht iſt ſtets und unbedingt das Ergebniß der Wechſelwirkung des reinen und gleichen Weſens aller Perſönlichkeit an ſich und der geſellſchaftlichen Perſönlich- keit. Demgemäß ſagen wir, daß die Rechtsphiloſophie das Recht lehrt, in ſo ferne es aus dem reinen Weſen der Perſönlichkeit folgt, während die Rechtswiſſenſchaft das lebendige Recht in ſeinem poſi- tiven Verhältniß zum wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Leben zur Erkenntniß bringt. Das nun führt hinüber auf ein anderes Gebiet. Allein es iſt klar, daß hier das reine und das geſellſchaftliche Recht ſo innig verſchmolzen ſind, daß das letztere noch zu keiner ſelbſt- ſtändigen Darſtellung gelangen kann. Das nun geſchieht erſt da, wo die geſellſchaftlichen Elemente nicht mehr durch ihre ſelbſtwirkende Kraft das Recht bilden, ſondern wo die geſellſchaftlichen Ordnungen mit Bewußtſein und Willen in die Rechtsbildung hineingreifen. Das wiederum kann nur da geſchehen, wo dieſe geſellſchaftlichen Ordnungen ſich der rechtsbildenden Kraft des Staats bemächtigen. Das Intereſſe,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/420
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/420>, abgerufen am 22.12.2024.