Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Marie A -- r.


Marie war die Köchin eines alten katholischen
Pfarrers, er hatte die arme Waise väterlich erzo-
gen, sie suchte in der Folge durch treue Dienste
zu vergelten, was er so großmüthig an ihr geübt
hatte. Sie war jung, schön und artig, ihr guter,
unbefleckter Ruf, ihre untadelhafte Aufführung
wurde im ganzen Dorfe allgemein erkannt und
geehrt, auch der Tadelsüchtigste konnte ihn nicht
beflecken, weil der alte Pfarrer schon vollkommen
Greis, und übler Verdacht unmöglich war. Ihre
natürliche Munterkeit, ihr gefälliger Scherz und
Witz war des alten Kranken einzige Zerstreuung,
nur sie vermochte es, den Funken der Freude in
ihm zu wecken, ihm oft ein sanftes Lächeln ab-
zulocken.

Mit den Jahren mehrte sich Ueberlegung und
Nachdenken, sie sah trauernd in die Zukunft,
und sah nur allzu gut ein, daß ihr Glück, ihre
Aussicht mit dem Leben des Pfarrers enden müsse.
Sie achtete des Greises Rath, und blickte unter
den jungen Purschen des Dorfs nach einem Gat-
ten umher, der ihr bald und sicher werden konnte,

weil

Marie A — r.


Marie war die Koͤchin eines alten katholiſchen
Pfarrers, er hatte die arme Waiſe vaͤterlich erzo-
gen, ſie ſuchte in der Folge durch treue Dienſte
zu vergelten, was er ſo großmuͤthig an ihr geuͤbt
hatte. Sie war jung, ſchoͤn und artig, ihr guter,
unbefleckter Ruf, ihre untadelhafte Auffuͤhrung
wurde im ganzen Dorfe allgemein erkannt und
geehrt, auch der Tadelſuͤchtigſte konnte ihn nicht
beflecken, weil der alte Pfarrer ſchon vollkommen
Greis, und uͤbler Verdacht unmoͤglich war. Ihre
natuͤrliche Munterkeit, ihr gefaͤlliger Scherz und
Witz war des alten Kranken einzige Zerſtreuung,
nur ſie vermochte es, den Funken der Freude in
ihm zu wecken, ihm oft ein ſanftes Laͤcheln ab-
zulocken.

Mit den Jahren mehrte ſich Ueberlegung und
Nachdenken, ſie ſah trauernd in die Zukunft,
und ſah nur allzu gut ein, daß ihr Gluͤck, ihre
Ausſicht mit dem Leben des Pfarrers enden muͤſſe.
Sie achtete des Greiſes Rath, und blickte unter
den jungen Purſchen des Dorfs nach einem Gat-
ten umher, der ihr bald und ſicher werden konnte,

weil
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0168" n="160"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Marie</hi> A &#x2014; r.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p><hi rendition="#in">M</hi>arie war die Ko&#x0364;chin eines alten katholi&#x017F;chen<lb/>
Pfarrers, er hatte die arme Wai&#x017F;e va&#x0364;terlich erzo-<lb/>
gen, &#x017F;ie &#x017F;uchte in der Folge durch treue Dien&#x017F;te<lb/>
zu vergelten, was er &#x017F;o großmu&#x0364;thig an ihr geu&#x0364;bt<lb/>
hatte. Sie war jung, &#x017F;cho&#x0364;n und artig, ihr guter,<lb/>
unbefleckter Ruf, ihre untadelhafte Auffu&#x0364;hrung<lb/>
wurde im ganzen Dorfe allgemein erkannt und<lb/>
geehrt, auch der Tadel&#x017F;u&#x0364;chtig&#x017F;te konnte ihn nicht<lb/>
beflecken, weil der alte Pfarrer &#x017F;chon vollkommen<lb/>
Greis, und u&#x0364;bler Verdacht unmo&#x0364;glich war. Ihre<lb/>
natu&#x0364;rliche Munterkeit, ihr gefa&#x0364;lliger Scherz und<lb/>
Witz war des alten Kranken einzige Zer&#x017F;treuung,<lb/>
nur &#x017F;ie vermochte es, den Funken der Freude in<lb/>
ihm zu wecken, ihm oft ein &#x017F;anftes La&#x0364;cheln ab-<lb/>
zulocken.</p><lb/>
        <p>Mit den Jahren mehrte &#x017F;ich Ueberlegung und<lb/>
Nachdenken, &#x017F;ie &#x017F;ah trauernd in die Zukunft,<lb/>
und &#x017F;ah nur allzu gut ein, daß ihr Glu&#x0364;ck, ihre<lb/>
Aus&#x017F;icht mit dem Leben des Pfarrers enden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Sie achtete des Grei&#x017F;es Rath, und blickte unter<lb/>
den jungen Pur&#x017F;chen des Dorfs nach einem Gat-<lb/>
ten umher, der ihr bald und &#x017F;icher werden konnte,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">weil</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[160/0168] Marie A — r. Marie war die Koͤchin eines alten katholiſchen Pfarrers, er hatte die arme Waiſe vaͤterlich erzo- gen, ſie ſuchte in der Folge durch treue Dienſte zu vergelten, was er ſo großmuͤthig an ihr geuͤbt hatte. Sie war jung, ſchoͤn und artig, ihr guter, unbefleckter Ruf, ihre untadelhafte Auffuͤhrung wurde im ganzen Dorfe allgemein erkannt und geehrt, auch der Tadelſuͤchtigſte konnte ihn nicht beflecken, weil der alte Pfarrer ſchon vollkommen Greis, und uͤbler Verdacht unmoͤglich war. Ihre natuͤrliche Munterkeit, ihr gefaͤlliger Scherz und Witz war des alten Kranken einzige Zerſtreuung, nur ſie vermochte es, den Funken der Freude in ihm zu wecken, ihm oft ein ſanftes Laͤcheln ab- zulocken. Mit den Jahren mehrte ſich Ueberlegung und Nachdenken, ſie ſah trauernd in die Zukunft, und ſah nur allzu gut ein, daß ihr Gluͤck, ihre Ausſicht mit dem Leben des Pfarrers enden muͤſſe. Sie achtete des Greiſes Rath, und blickte unter den jungen Purſchen des Dorfs nach einem Gat- ten umher, der ihr bald und ſicher werden konnte, weil

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/168
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/168>, abgerufen am 03.12.2024.