Der Knabe und er gingen eine Zeit lang schwei¬ gend nebeneinander durch den Wald. Bruno war zu stolz, als daß er eine Unterhaltung mit dem hätte be¬ ginnen sollen, der ihn ganz vergessen zu haben schien, und Oswald war mit seinen eignen Gedanken vollauf beschäftigt . . . Jeder Mensch, mit dem wir in nähere Beziehung treten, ist ein Glas, das unser eigen Bild so oder so zurückwirft, und in dem krystallhellen Spiegel von jenes Mannes kindlich reiner Seele, hatte Oswald sein eignes Gesicht erblickt, -- aber wie erblickt? von Leidenschaft zerrissen, von Zweifel verdüstert, so daß er vor sich selbst erschrak. "Und dieser Mann, sprach er bei sich, kommt zu Dir, sich von Dir Rath zu holen; der Sehende zu dem Blinden, der Gesunde zu dem Kranken! Er entdeckt einen Fehler in der Rechnung seines Lebens, und er setzt sich hin und rechnet und
Neunzehntes Kapitel.
Der Knabe und er gingen eine Zeit lang ſchwei¬ gend nebeneinander durch den Wald. Bruno war zu ſtolz, als daß er eine Unterhaltung mit dem hätte be¬ ginnen ſollen, der ihn ganz vergeſſen zu haben ſchien, und Oswald war mit ſeinen eignen Gedanken vollauf beſchäftigt . . . Jeder Menſch, mit dem wir in nähere Beziehung treten, iſt ein Glas, das unſer eigen Bild ſo oder ſo zurückwirft, und in dem kryſtallhellen Spiegel von jenes Mannes kindlich reiner Seele, hatte Oswald ſein eignes Geſicht erblickt, — aber wie erblickt? von Leidenſchaft zerriſſen, von Zweifel verdüſtert, ſo daß er vor ſich ſelbſt erſchrak. „Und dieſer Mann, ſprach er bei ſich, kommt zu Dir, ſich von Dir Rath zu holen; der Sehende zu dem Blinden, der Geſunde zu dem Kranken! Er entdeckt einen Fehler in der Rechnung ſeines Lebens, und er ſetzt ſich hin und rechnet und
<TEI><text><body><pbfacs="#f0275"n="[265]"/><divn="1"><head><hirendition="#b">Neunzehntes Kapitel.</hi><lb/></head><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Der Knabe und er gingen eine Zeit lang ſchwei¬<lb/>
gend nebeneinander durch den Wald. Bruno war zu<lb/>ſtolz, als daß er eine Unterhaltung mit dem hätte be¬<lb/>
ginnen ſollen, der ihn ganz vergeſſen zu haben ſchien,<lb/>
und Oswald war mit ſeinen eignen Gedanken vollauf<lb/>
beſchäftigt . . . Jeder Menſch, mit dem wir in nähere<lb/>
Beziehung treten, iſt ein Glas, das unſer eigen Bild<lb/>ſo oder ſo zurückwirft, und in dem kryſtallhellen Spiegel<lb/>
von jenes Mannes kindlich reiner Seele, hatte Oswald<lb/>ſein eignes Geſicht erblickt, — aber wie erblickt? von<lb/>
Leidenſchaft zerriſſen, von Zweifel verdüſtert, ſo daß er<lb/>
vor ſich ſelbſt erſchrak. „Und dieſer Mann, ſprach er<lb/>
bei ſich, kommt zu Dir, ſich von Dir Rath zu holen;<lb/>
der Sehende zu dem Blinden, der Geſunde zu dem<lb/>
Kranken! Er entdeckt einen Fehler in der Rechnung<lb/>ſeines Lebens, und er ſetzt ſich hin und rechnet und<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[265]/0275]
Neunzehntes Kapitel.
Der Knabe und er gingen eine Zeit lang ſchwei¬
gend nebeneinander durch den Wald. Bruno war zu
ſtolz, als daß er eine Unterhaltung mit dem hätte be¬
ginnen ſollen, der ihn ganz vergeſſen zu haben ſchien,
und Oswald war mit ſeinen eignen Gedanken vollauf
beſchäftigt . . . Jeder Menſch, mit dem wir in nähere
Beziehung treten, iſt ein Glas, das unſer eigen Bild
ſo oder ſo zurückwirft, und in dem kryſtallhellen Spiegel
von jenes Mannes kindlich reiner Seele, hatte Oswald
ſein eignes Geſicht erblickt, — aber wie erblickt? von
Leidenſchaft zerriſſen, von Zweifel verdüſtert, ſo daß er
vor ſich ſelbſt erſchrak. „Und dieſer Mann, ſprach er
bei ſich, kommt zu Dir, ſich von Dir Rath zu holen;
der Sehende zu dem Blinden, der Geſunde zu dem
Kranken! Er entdeckt einen Fehler in der Rechnung
ſeines Lebens, und er ſetzt ſich hin und rechnet und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. [265]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/275>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.