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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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als Teilnehmer (partner) des Geschäftsinhabers angesehen,
also solidarisch haftbar für ihn. Ein Gesetz dieses Jahres
erst löste diese Verbindung, indem es durch feinere Differen-
zierung gerade nur diejenigen bestehen liess, auf die es ankam.
Der Arbeiter konnte nun Teil am Gewinne haben, ohne in das
sachlich ungerechtfertigte Risiko der vollkommenen Teilhaber-
schaft hineingerissen zu werden. Es ist für alle diese Ver-
hältnisse zu beachten, dass die mangelhafte Differenzierung
nicht nur, im Objektiven stattfindend, die Funktion eines
Teils mit der eines andern, die teleologisch nicht dazu er-
forderlich wäre, verschmelzen lässt, sondern dass auch das
subjektive Urteil oft die Möglichkeit der Sonderung nicht
entdeckt und nun, wenn das Geschehen von bewusster Er-
kenntnis, Plan oder Befehl abhängig ist, die Heraussonderung
des allein Erforderlichen deshalb selbst dann nicht stattfindet,
wo dies sachlich schon geschehen könnte. Die Differenzierung
in unserm Vorstellen der Dinge steht keineswegs in gleichem
Verhältnis zu dieser thatsächlichen Differenzierung oder Dif-
ferenzierungsmöglichkeit, wenngleich im grossen und ganzen
die erstere von der letzteren bestimmt werden wird; da nun
aber auch vielfach die erstere die letztere bestimmt, so wird
bei Mangelhaftigkeit derselben sich der Zirkel ergeben, dass
der Glaube, die Personen oder Funktionen gehörten zu-
sammen, auch thatsächlich ihre Individualisierung verhindert
und dieser reale Mangel wieder jene mangelhafte Erkenntnis
stützt. So hat gerade der Glaube an die unlösliche Solidarität
der Familie, der einem undifferenzierten Vorstellen entsprang,
zu dem Heimsuchen der gegen dritte Personen gerichteten in-
dividuellen That an der Familie als Ganzem geführt und
dieser Umstand wiederum die Familie genötigt sich zur Ab-
wehr des Angriffs wirklich aufs engste zusammenzuschliessen,
was dann jenem Glauben wieder eine verstärkte Grundlage
gab.

Man muss nun auch im Auge behalten, dass in demselben
Masse, in dem sich der Einzelne an den Dienst seiner Gruppe
hingiebt, er von ihr auch Form und Inhalt seines eigenen
Wesens empfängt. Freiwillig oder unfreiwillig amalgamiert
der Angehörige einer kleinen Gruppe seine Interessen mit
denen der Gesamtheit, und so werden nicht nur ihre In-
teressen die seinen, sondern auch seine Interessen die ihren.
Und schon dadurch wird seine Natur gewissermassen der des
Ganzen eingeschmolzen, dass namentlich im Verlauf vieler
Generationen die Eigenschaften sich immer den Interessen
anpassen und so die Einheit der Zwecke zur Einheit des
geistigen und leiblichen Wesens führt.

Wir sehen, wie die Beziehungen, die den Einzelnen in
völliger Einheitlichkeit mit seiner Gruppe erscheinen lassen,
zwei Typen aufweisen, welche mit denjenigen Hauptgründen

X 1.
als Teilnehmer (partner) des Geschäftsinhabers angesehen,
also solidarisch haftbar für ihn. Ein Gesetz dieses Jahres
erst löste diese Verbindung, indem es durch feinere Differen-
zierung gerade nur diejenigen bestehen lieſs, auf die es ankam.
Der Arbeiter konnte nun Teil am Gewinne haben, ohne in das
sachlich ungerechtfertigte Risiko der vollkommenen Teilhaber-
schaft hineingerissen zu werden. Es ist für alle diese Ver-
hältnisse zu beachten, daſs die mangelhafte Differenzierung
nicht nur, im Objektiven stattfindend, die Funktion eines
Teils mit der eines andern, die teleologisch nicht dazu er-
forderlich wäre, verschmelzen läſst, sondern daſs auch das
subjektive Urteil oft die Möglichkeit der Sonderung nicht
entdeckt und nun, wenn das Geschehen von bewuſster Er-
kenntnis, Plan oder Befehl abhängig ist, die Heraussonderung
des allein Erforderlichen deshalb selbst dann nicht stattfindet,
wo dies sachlich schon geschehen könnte. Die Differenzierung
in unserm Vorstellen der Dinge steht keineswegs in gleichem
Verhältnis zu dieser thatsächlichen Differenzierung oder Dif-
ferenzierungsmöglichkeit, wenngleich im groſsen und ganzen
die erstere von der letzteren bestimmt werden wird; da nun
aber auch vielfach die erstere die letztere bestimmt, so wird
bei Mangelhaftigkeit derselben sich der Zirkel ergeben, daſs
der Glaube, die Personen oder Funktionen gehörten zu-
sammen, auch thatsächlich ihre Individualisierung verhindert
und dieser reale Mangel wieder jene mangelhafte Erkenntnis
stützt. So hat gerade der Glaube an die unlösliche Solidarität
der Familie, der einem undifferenzierten Vorstellen entsprang,
zu dem Heimsuchen der gegen dritte Personen gerichteten in-
dividuellen That an der Familie als Ganzem geführt und
dieser Umstand wiederum die Familie genötigt sich zur Ab-
wehr des Angriffs wirklich aufs engste zusammenzuschlieſsen,
was dann jenem Glauben wieder eine verstärkte Grundlage
gab.

Man muſs nun auch im Auge behalten, daſs in demselben
Maſse, in dem sich der Einzelne an den Dienst seiner Gruppe
hingiebt, er von ihr auch Form und Inhalt seines eigenen
Wesens empfängt. Freiwillig oder unfreiwillig amalgamiert
der Angehörige einer kleinen Gruppe seine Interessen mit
denen der Gesamtheit, und so werden nicht nur ihre In-
teressen die seinen, sondern auch seine Interessen die ihren.
Und schon dadurch wird seine Natur gewissermaſsen der des
Ganzen eingeschmolzen, daſs namentlich im Verlauf vieler
Generationen die Eigenschaften sich immer den Interessen
anpassen und so die Einheit der Zwecke zur Einheit des
geistigen und leiblichen Wesens führt.

Wir sehen, wie die Beziehungen, die den Einzelnen in
völliger Einheitlichkeit mit seiner Gruppe erscheinen lassen,
zwei Typen aufweisen, welche mit denjenigen Hauptgründen

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[26/0040] X 1. als Teilnehmer (partner) des Geschäftsinhabers angesehen, also solidarisch haftbar für ihn. Ein Gesetz dieses Jahres erst löste diese Verbindung, indem es durch feinere Differen- zierung gerade nur diejenigen bestehen lieſs, auf die es ankam. Der Arbeiter konnte nun Teil am Gewinne haben, ohne in das sachlich ungerechtfertigte Risiko der vollkommenen Teilhaber- schaft hineingerissen zu werden. Es ist für alle diese Ver- hältnisse zu beachten, daſs die mangelhafte Differenzierung nicht nur, im Objektiven stattfindend, die Funktion eines Teils mit der eines andern, die teleologisch nicht dazu er- forderlich wäre, verschmelzen läſst, sondern daſs auch das subjektive Urteil oft die Möglichkeit der Sonderung nicht entdeckt und nun, wenn das Geschehen von bewuſster Er- kenntnis, Plan oder Befehl abhängig ist, die Heraussonderung des allein Erforderlichen deshalb selbst dann nicht stattfindet, wo dies sachlich schon geschehen könnte. Die Differenzierung in unserm Vorstellen der Dinge steht keineswegs in gleichem Verhältnis zu dieser thatsächlichen Differenzierung oder Dif- ferenzierungsmöglichkeit, wenngleich im groſsen und ganzen die erstere von der letzteren bestimmt werden wird; da nun aber auch vielfach die erstere die letztere bestimmt, so wird bei Mangelhaftigkeit derselben sich der Zirkel ergeben, daſs der Glaube, die Personen oder Funktionen gehörten zu- sammen, auch thatsächlich ihre Individualisierung verhindert und dieser reale Mangel wieder jene mangelhafte Erkenntnis stützt. So hat gerade der Glaube an die unlösliche Solidarität der Familie, der einem undifferenzierten Vorstellen entsprang, zu dem Heimsuchen der gegen dritte Personen gerichteten in- dividuellen That an der Familie als Ganzem geführt und dieser Umstand wiederum die Familie genötigt sich zur Ab- wehr des Angriffs wirklich aufs engste zusammenzuschlieſsen, was dann jenem Glauben wieder eine verstärkte Grundlage gab. Man muſs nun auch im Auge behalten, daſs in demselben Maſse, in dem sich der Einzelne an den Dienst seiner Gruppe hingiebt, er von ihr auch Form und Inhalt seines eigenen Wesens empfängt. Freiwillig oder unfreiwillig amalgamiert der Angehörige einer kleinen Gruppe seine Interessen mit denen der Gesamtheit, und so werden nicht nur ihre In- teressen die seinen, sondern auch seine Interessen die ihren. Und schon dadurch wird seine Natur gewissermaſsen der des Ganzen eingeschmolzen, daſs namentlich im Verlauf vieler Generationen die Eigenschaften sich immer den Interessen anpassen und so die Einheit der Zwecke zur Einheit des geistigen und leiblichen Wesens führt. Wir sehen, wie die Beziehungen, die den Einzelnen in völliger Einheitlichkeit mit seiner Gruppe erscheinen lassen, zwei Typen aufweisen, welche mit denjenigen Hauptgründen

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/40>, abgerufen am 27.04.2024.