Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

X 1.
erweckt, als ob eine eigene, von ihren Elementen relativ
unabhängige Lebenskraft ihre Selbsterhaltung bewirkte und
ihre Störungen ausgliche, so beweist dies nur die hohe Aus-
bildung und innerliche Verknüpftheit ihrer Vereinigungsform;
und mit dem Steigen dieser Eigenschaften wird auch jene
Folge wachsen, das Ganze wird selbständiger den Teilen
gegenüber erscheinen und sein, der Teil immer weniger sich
dem Ganzen hinzugeben brauchen. So ist die Thatsache der
anspruchsvolleren Verpflichtung des Einzelnen durch die klei-
nere Gruppe, seine engere Verschmelzung mit ihr als mit der
grösseren nur als ein specieller Fall einer ganz allgemeinen,
für den Zusammenhang der Dinge geltenden Norm anzusehen.

Eine etwas einfachere Überlegung stellt das gleiche Ver-
hältnis noch von einer andern Seite dar. Da die Differen-
zierung auch der individuellen Kräfte und Thätigkeiten bei
primitiven socialen Zuständen noch eine unvollkommne ist, so
kann auch eine scharfe Sonderung zwischen dem, was des
Kaisers ist, und dem, was die privaten oder anderweitigen
socialen Interessen des Einzelnen beanspruchen und bean-
spruchen dürfen, noch nicht eintreten, und das dem Gemein-
wesen gebrachte Opfer ist deshalb leicht umfänglicher, als die
Sache es fordert; wegen der noch zu engen Verbindung zwi-
schen den einzelnen Willensakten und Interessenkreisen setzt
die einzelne Zweckthätigkeit noch viele andere, eigentlich
nicht dazu gehörige in Bewegung und verbraucht sie -- un-
gefähr wie Kinder und ungeschickte Menschen zu einer vor-
gesetzten Thätigkeit viel mehr Muskelgruppen innervieren,
als für sie erforderlich ist, wie sie oft den ganzen Arm be-
wegen, wo sie nur einen Finger, den ganzen Körper, wo sie
nur einen Arm zu bewegen brauchten. Wo die Ansprüche
der socialen Gruppe an den Einzelnen, wo das Mass, in dem
er sich ihnen hingeben kann, in scharfer Umgrenzung heraus-
differenziert ist, da können sie ceteris paribus geringere sein,
als wo ein ungefüges Ineinander und Durcheinander der
Lebensmomente die einzelne Forderung noch so und so viel
Benachbartes gewissermassen mit sich fortreissen lässt. Ich
erinnere daran, wie die Mitgliedschaft in einer Zunft sehr oft
eine politische Parteistellung erforderte, die eine höhere Ent-
wickelung ganz von dem Zwecke der Zunft ablöste, an die
ziemlich unbedingte Notwendigkeit in engeren und primitiven
Staatsgruppen auch dem religiösen Bekenntnis derselben an-
zugehören, an den Zwang früherer Zeiten bei Zugehörigkeit
zu einer gewissen Familie auch den in ihr erblichen Beruf
zu ergreifen, z. B. in Ägypten, Mexico u. s. w. Wie dieser
Zustand noch in die höchsten Kulturen hineinragt, lehrt jeder
unbefangene Blick; ich nenne nur ein etwas abgelegeneres
Beispiel: in England war bis 1865 jeder Arbeiter oder An-
gestellte, der durch Gewinnanteil besoldet wurde, eo ipso

X 1.
erweckt, als ob eine eigene, von ihren Elementen relativ
unabhängige Lebenskraft ihre Selbsterhaltung bewirkte und
ihre Störungen ausgliche, so beweist dies nur die hohe Aus-
bildung und innerliche Verknüpftheit ihrer Vereinigungsform;
und mit dem Steigen dieser Eigenschaften wird auch jene
Folge wachsen, das Ganze wird selbständiger den Teilen
gegenüber erscheinen und sein, der Teil immer weniger sich
dem Ganzen hinzugeben brauchen. So ist die Thatsache der
anspruchsvolleren Verpflichtung des Einzelnen durch die klei-
nere Gruppe, seine engere Verschmelzung mit ihr als mit der
gröſseren nur als ein specieller Fall einer ganz allgemeinen,
für den Zusammenhang der Dinge geltenden Norm anzusehen.

Eine etwas einfachere Überlegung stellt das gleiche Ver-
hältnis noch von einer andern Seite dar. Da die Differen-
zierung auch der individuellen Kräfte und Thätigkeiten bei
primitiven socialen Zuständen noch eine unvollkommne ist, so
kann auch eine scharfe Sonderung zwischen dem, was des
Kaisers ist, und dem, was die privaten oder anderweitigen
socialen Interessen des Einzelnen beanspruchen und bean-
spruchen dürfen, noch nicht eintreten, und das dem Gemein-
wesen gebrachte Opfer ist deshalb leicht umfänglicher, als die
Sache es fordert; wegen der noch zu engen Verbindung zwi-
schen den einzelnen Willensakten und Interessenkreisen setzt
die einzelne Zweckthätigkeit noch viele andere, eigentlich
nicht dazu gehörige in Bewegung und verbraucht sie — un-
gefähr wie Kinder und ungeschickte Menschen zu einer vor-
gesetzten Thätigkeit viel mehr Muskelgruppen innervieren,
als für sie erforderlich ist, wie sie oft den ganzen Arm be-
wegen, wo sie nur einen Finger, den ganzen Körper, wo sie
nur einen Arm zu bewegen brauchten. Wo die Ansprüche
der socialen Gruppe an den Einzelnen, wo das Maſs, in dem
er sich ihnen hingeben kann, in scharfer Umgrenzung heraus-
differenziert ist, da können sie ceteris paribus geringere sein,
als wo ein ungefüges Ineinander und Durcheinander der
Lebensmomente die einzelne Forderung noch so und so viel
Benachbartes gewissermaſsen mit sich fortreiſsen läſst. Ich
erinnere daran, wie die Mitgliedschaft in einer Zunft sehr oft
eine politische Parteistellung erforderte, die eine höhere Ent-
wickelung ganz von dem Zwecke der Zunft ablöste, an die
ziemlich unbedingte Notwendigkeit in engeren und primitiven
Staatsgruppen auch dem religiösen Bekenntnis derselben an-
zugehören, an den Zwang früherer Zeiten bei Zugehörigkeit
zu einer gewissen Familie auch den in ihr erblichen Beruf
zu ergreifen, z. B. in Ägypten, Mexico u. s. w. Wie dieser
Zustand noch in die höchsten Kulturen hineinragt, lehrt jeder
unbefangene Blick; ich nenne nur ein etwas abgelegeneres
Beispiel: in England war bis 1865 jeder Arbeiter oder An-
gestellte, der durch Gewinnanteil besoldet wurde, eo ipso

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0039" n="25"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/>
erweckt, als ob eine eigene, von ihren Elementen relativ<lb/>
unabhängige Lebenskraft ihre Selbsterhaltung bewirkte und<lb/>
ihre Störungen ausgliche, so beweist dies nur die hohe Aus-<lb/>
bildung und innerliche Verknüpftheit ihrer Vereinigungsform;<lb/>
und mit dem Steigen dieser Eigenschaften wird auch jene<lb/>
Folge wachsen, das Ganze wird selbständiger den Teilen<lb/>
gegenüber erscheinen und sein, der Teil immer weniger sich<lb/>
dem Ganzen hinzugeben brauchen. So ist die Thatsache der<lb/>
anspruchsvolleren Verpflichtung des Einzelnen durch die klei-<lb/>
nere Gruppe, seine engere Verschmelzung mit ihr als mit der<lb/>
grö&#x017F;seren nur als ein specieller Fall einer ganz allgemeinen,<lb/>
für den Zusammenhang der Dinge geltenden Norm anzusehen.</p><lb/>
        <p>Eine etwas einfachere Überlegung stellt das gleiche Ver-<lb/>
hältnis noch von einer andern Seite dar. Da die Differen-<lb/>
zierung auch der individuellen Kräfte und Thätigkeiten bei<lb/>
primitiven socialen Zuständen noch eine unvollkommne ist, so<lb/>
kann auch eine scharfe Sonderung zwischen dem, was des<lb/>
Kaisers ist, und dem, was die privaten oder anderweitigen<lb/>
socialen Interessen des Einzelnen beanspruchen und bean-<lb/>
spruchen dürfen, noch nicht eintreten, und das dem Gemein-<lb/>
wesen gebrachte Opfer ist deshalb leicht umfänglicher, als die<lb/>
Sache es fordert; wegen der noch zu engen Verbindung zwi-<lb/>
schen den einzelnen Willensakten und Interessenkreisen setzt<lb/>
die einzelne Zweckthätigkeit noch viele andere, eigentlich<lb/>
nicht dazu gehörige in Bewegung und verbraucht sie &#x2014; un-<lb/>
gefähr wie Kinder und ungeschickte Menschen zu einer vor-<lb/>
gesetzten Thätigkeit viel mehr Muskelgruppen innervieren,<lb/>
als für sie erforderlich ist, wie sie oft den ganzen Arm be-<lb/>
wegen, wo sie nur einen Finger, den ganzen Körper, wo sie<lb/>
nur einen Arm zu bewegen brauchten. Wo die Ansprüche<lb/>
der socialen Gruppe an den Einzelnen, wo das Ma&#x017F;s, in dem<lb/>
er sich ihnen hingeben kann, in scharfer Umgrenzung heraus-<lb/>
differenziert ist, da können sie ceteris paribus geringere sein,<lb/>
als wo ein ungefüges Ineinander und Durcheinander der<lb/>
Lebensmomente die einzelne Forderung noch so und so viel<lb/>
Benachbartes gewisserma&#x017F;sen mit sich fortrei&#x017F;sen lä&#x017F;st. Ich<lb/>
erinnere daran, wie die Mitgliedschaft in einer Zunft sehr oft<lb/>
eine politische Parteistellung erforderte, die eine höhere Ent-<lb/>
wickelung ganz von dem Zwecke der Zunft ablöste, an die<lb/>
ziemlich unbedingte Notwendigkeit in engeren und primitiven<lb/>
Staatsgruppen auch dem religiösen Bekenntnis derselben an-<lb/>
zugehören, an den Zwang früherer Zeiten bei Zugehörigkeit<lb/>
zu einer gewissen Familie auch den in ihr erblichen Beruf<lb/>
zu ergreifen, z. B. in <choice><sic>Agypten</sic><corr>Ägypten</corr></choice>, Mexico u. s. w. Wie dieser<lb/>
Zustand noch in die höchsten Kulturen hineinragt, lehrt jeder<lb/>
unbefangene Blick; ich nenne nur ein etwas abgelegeneres<lb/>
Beispiel: in England war bis 1865 jeder Arbeiter oder An-<lb/>
gestellte, der durch Gewinnanteil besoldet wurde, eo ipso<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0039] X 1. erweckt, als ob eine eigene, von ihren Elementen relativ unabhängige Lebenskraft ihre Selbsterhaltung bewirkte und ihre Störungen ausgliche, so beweist dies nur die hohe Aus- bildung und innerliche Verknüpftheit ihrer Vereinigungsform; und mit dem Steigen dieser Eigenschaften wird auch jene Folge wachsen, das Ganze wird selbständiger den Teilen gegenüber erscheinen und sein, der Teil immer weniger sich dem Ganzen hinzugeben brauchen. So ist die Thatsache der anspruchsvolleren Verpflichtung des Einzelnen durch die klei- nere Gruppe, seine engere Verschmelzung mit ihr als mit der gröſseren nur als ein specieller Fall einer ganz allgemeinen, für den Zusammenhang der Dinge geltenden Norm anzusehen. Eine etwas einfachere Überlegung stellt das gleiche Ver- hältnis noch von einer andern Seite dar. Da die Differen- zierung auch der individuellen Kräfte und Thätigkeiten bei primitiven socialen Zuständen noch eine unvollkommne ist, so kann auch eine scharfe Sonderung zwischen dem, was des Kaisers ist, und dem, was die privaten oder anderweitigen socialen Interessen des Einzelnen beanspruchen und bean- spruchen dürfen, noch nicht eintreten, und das dem Gemein- wesen gebrachte Opfer ist deshalb leicht umfänglicher, als die Sache es fordert; wegen der noch zu engen Verbindung zwi- schen den einzelnen Willensakten und Interessenkreisen setzt die einzelne Zweckthätigkeit noch viele andere, eigentlich nicht dazu gehörige in Bewegung und verbraucht sie — un- gefähr wie Kinder und ungeschickte Menschen zu einer vor- gesetzten Thätigkeit viel mehr Muskelgruppen innervieren, als für sie erforderlich ist, wie sie oft den ganzen Arm be- wegen, wo sie nur einen Finger, den ganzen Körper, wo sie nur einen Arm zu bewegen brauchten. Wo die Ansprüche der socialen Gruppe an den Einzelnen, wo das Maſs, in dem er sich ihnen hingeben kann, in scharfer Umgrenzung heraus- differenziert ist, da können sie ceteris paribus geringere sein, als wo ein ungefüges Ineinander und Durcheinander der Lebensmomente die einzelne Forderung noch so und so viel Benachbartes gewissermaſsen mit sich fortreiſsen läſst. Ich erinnere daran, wie die Mitgliedschaft in einer Zunft sehr oft eine politische Parteistellung erforderte, die eine höhere Ent- wickelung ganz von dem Zwecke der Zunft ablöste, an die ziemlich unbedingte Notwendigkeit in engeren und primitiven Staatsgruppen auch dem religiösen Bekenntnis derselben an- zugehören, an den Zwang früherer Zeiten bei Zugehörigkeit zu einer gewissen Familie auch den in ihr erblichen Beruf zu ergreifen, z. B. in Ägypten, Mexico u. s. w. Wie dieser Zustand noch in die höchsten Kulturen hineinragt, lehrt jeder unbefangene Blick; ich nenne nur ein etwas abgelegeneres Beispiel: in England war bis 1865 jeder Arbeiter oder An- gestellte, der durch Gewinnanteil besoldet wurde, eo ipso

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/39
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/39>, abgerufen am 23.11.2024.