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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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der Seele müssen wir verzichten, sondern auch unter ihren
Inhalten ist keine wirkliche Einheit zu entdecken; zwischen
den Gedanken des Kindes und denen des Mannes, zwischen
unsern theoretischen Überzeugungen und unserm praktischen
Handeln, zwischen den Leistungen unserer besten und denen
unserer schwächsten Stunden bestehen so viele Gegensätze, dass
es absolut unmöglich ist einen Punkt zu entdecken, von dem
aus dies alles als harmonische Entwickelung einer ursprüng-
lichen Seeleneinheit erschiene. Nichts als der ganz leere, for-
male Gedanke eines Ich bleibt, an dem alle diese Wandlungen
und Gegensätze vor sich gingen, der aber eben auch nur ein
Gedanke ist und deshalb nicht das sein kann, was, vorgeblich
über allen einzelnen Vorstellungen stehend, sie einheitlich
umschliesst.

Dass wir also eine Summe von Atombewegungen und
einzelnen Vorstellungen zu der Geschichte eines "Individuums"
zusammenfassen, ist schon unexakt und subjektiv. Dürfen
wir, wie jener Individualismus will, nur das als wahrhaft ob-
jective Existenz ansehen, was an und für sich im objectiven
Sinne eine Einheit bildet, und ist alle Zusammensetzung
solcher Einheiten zu einem höheren Gebilde nur menschliche
Synthese, der gegenüber die Wissenschaft die Aufgabe der
analysierenden Zurückführung auf jene Einheiten habe: so
können wir auch nicht bei dem menschlichen Individuum
stehen bleiben, sondern müssen auch dies als eine subjektive
Zusammenfassung betrachten, während den Gegenstand der
Wissenschaft nur die einheitlichen, atomistischen Bestandteile
derselben bildeten.

Ebenso richtig wie diese Forderung in der Theorie des
Erkennens ist, ebenso unerfüllbar ist sie in der Praxis des-
selben. Statt des Ideales des Wissens, das die Geschichte
jedes kleinsten Teiles der Welt schreiben kann, müssen uns
die Geschichte und die Regelmässigkeiten der Konglomerate
genügen, die nach unsern subjektiven Denkkategorieen aus der
objektiven Gesamtheit des Seins herausgeschnitten werden;
der Vorwurf, der diese Praxis trifft, gilt jedem Operieren mit
dem menschlichen Individuum so gut, wie dem mit der mensch-
lichen Gesellschaft. Die Frage, wie viele und welche realen
Einheiten wir zu einer höheren, aber nur subjektiven Ein-
heit zusammenzufassen haben, deren Schicksale den Gegen-
stand einer besonderen Wissenschaft bilden sollen -- ist nur
eine Frage der Praxis. Wir haben also, die blosse Vorläufig-
keit und den blos morphologischen Charakter solcher Erkennt-
nisse ein für allemal zugegeben, nach dem Kriterium der-
artiger Zusammenfassungen, und wie weit diejenige zu einer
Gesellschaft ihm genügt, zu fragen.

Es ist mir nun unzweifelhaft, dass es nur einen Grund
giebt, der eine wenigstens relative Objektivität der Verein-

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der Seele müssen wir verzichten, sondern auch unter ihren
Inhalten ist keine wirkliche Einheit zu entdecken; zwischen
den Gedanken des Kindes und denen des Mannes, zwischen
unsern theoretischen Überzeugungen und unserm praktischen
Handeln, zwischen den Leistungen unserer besten und denen
unserer schwächsten Stunden bestehen so viele Gegensätze, daſs
es absolut unmöglich ist einen Punkt zu entdecken, von dem
aus dies alles als harmonische Entwickelung einer ursprüng-
lichen Seeleneinheit erschiene. Nichts als der ganz leere, for-
male Gedanke eines Ich bleibt, an dem alle diese Wandlungen
und Gegensätze vor sich gingen, der aber eben auch nur ein
Gedanke ist und deshalb nicht das sein kann, was, vorgeblich
über allen einzelnen Vorstellungen stehend, sie einheitlich
umschlieſst.

Daſs wir also eine Summe von Atombewegungen und
einzelnen Vorstellungen zu der Geschichte eines „Individuums“
zusammenfassen, ist schon unexakt und subjektiv. Dürfen
wir, wie jener Individualismus will, nur das als wahrhaft ob-
jective Existenz ansehen, was an und für sich im objectiven
Sinne eine Einheit bildet, und ist alle Zusammensetzung
solcher Einheiten zu einem höheren Gebilde nur menschliche
Synthese, der gegenüber die Wissenschaft die Aufgabe der
analysierenden Zurückführung auf jene Einheiten habe: so
können wir auch nicht bei dem menschlichen Individuum
stehen bleiben, sondern müssen auch dies als eine subjektive
Zusammenfassung betrachten, während den Gegenstand der
Wissenschaft nur die einheitlichen, atomistischen Bestandteile
derselben bildeten.

Ebenso richtig wie diese Forderung in der Theorie des
Erkennens ist, ebenso unerfüllbar ist sie in der Praxis des-
selben. Statt des Ideales des Wissens, das die Geschichte
jedes kleinsten Teiles der Welt schreiben kann, müssen uns
die Geschichte und die Regelmäſsigkeiten der Konglomerate
genügen, die nach unsern subjektiven Denkkategorieen aus der
objektiven Gesamtheit des Seins herausgeschnitten werden;
der Vorwurf, der diese Praxis trifft, gilt jedem Operieren mit
dem menschlichen Individuum so gut, wie dem mit der mensch-
lichen Gesellschaft. Die Frage, wie viele und welche realen
Einheiten wir zu einer höheren, aber nur subjektiven Ein-
heit zusammenzufassen haben, deren Schicksale den Gegen-
stand einer besonderen Wissenschaft bilden sollen — ist nur
eine Frage der Praxis. Wir haben also, die bloſse Vorläufig-
keit und den blos morphologischen Charakter solcher Erkennt-
nisse ein für allemal zugegeben, nach dem Kriterium der-
artiger Zusammenfassungen, und wie weit diejenige zu einer
Gesellschaft ihm genügt, zu fragen.

Es ist mir nun unzweifelhaft, daſs es nur einen Grund
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[12/0026] X 1. der Seele müssen wir verzichten, sondern auch unter ihren Inhalten ist keine wirkliche Einheit zu entdecken; zwischen den Gedanken des Kindes und denen des Mannes, zwischen unsern theoretischen Überzeugungen und unserm praktischen Handeln, zwischen den Leistungen unserer besten und denen unserer schwächsten Stunden bestehen so viele Gegensätze, daſs es absolut unmöglich ist einen Punkt zu entdecken, von dem aus dies alles als harmonische Entwickelung einer ursprüng- lichen Seeleneinheit erschiene. Nichts als der ganz leere, for- male Gedanke eines Ich bleibt, an dem alle diese Wandlungen und Gegensätze vor sich gingen, der aber eben auch nur ein Gedanke ist und deshalb nicht das sein kann, was, vorgeblich über allen einzelnen Vorstellungen stehend, sie einheitlich umschlieſst. Daſs wir also eine Summe von Atombewegungen und einzelnen Vorstellungen zu der Geschichte eines „Individuums“ zusammenfassen, ist schon unexakt und subjektiv. Dürfen wir, wie jener Individualismus will, nur das als wahrhaft ob- jective Existenz ansehen, was an und für sich im objectiven Sinne eine Einheit bildet, und ist alle Zusammensetzung solcher Einheiten zu einem höheren Gebilde nur menschliche Synthese, der gegenüber die Wissenschaft die Aufgabe der analysierenden Zurückführung auf jene Einheiten habe: so können wir auch nicht bei dem menschlichen Individuum stehen bleiben, sondern müssen auch dies als eine subjektive Zusammenfassung betrachten, während den Gegenstand der Wissenschaft nur die einheitlichen, atomistischen Bestandteile derselben bildeten. Ebenso richtig wie diese Forderung in der Theorie des Erkennens ist, ebenso unerfüllbar ist sie in der Praxis des- selben. Statt des Ideales des Wissens, das die Geschichte jedes kleinsten Teiles der Welt schreiben kann, müssen uns die Geschichte und die Regelmäſsigkeiten der Konglomerate genügen, die nach unsern subjektiven Denkkategorieen aus der objektiven Gesamtheit des Seins herausgeschnitten werden; der Vorwurf, der diese Praxis trifft, gilt jedem Operieren mit dem menschlichen Individuum so gut, wie dem mit der mensch- lichen Gesellschaft. Die Frage, wie viele und welche realen Einheiten wir zu einer höheren, aber nur subjektiven Ein- heit zusammenzufassen haben, deren Schicksale den Gegen- stand einer besonderen Wissenschaft bilden sollen — ist nur eine Frage der Praxis. Wir haben also, die bloſse Vorläufig- keit und den blos morphologischen Charakter solcher Erkennt- nisse ein für allemal zugegeben, nach dem Kriterium der- artiger Zusammenfassungen, und wie weit diejenige zu einer Gesellschaft ihm genügt, zu fragen. Es ist mir nun unzweifelhaft, daſs es nur einen Grund giebt, der eine wenigstens relative Objektivität der Verein-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/26>, abgerufen am 26.04.2024.