Alter nahen sollten. Du mußt mir nicht gram seyn, daß ich dich nicht auf der Stelle zärtlich willkommen geheißen habe. Mein armes Herz war in beständiger Angst, es möchte mich irgend ein schlauer Betrüger täuschen. Jetzt, nachdem du mir genannt hast, was kein Sterb¬ licher außer dir und mir und unserer alten Pförtnerin Ak¬ toris, die mir aus dem väterlichen Hause hieher gefolgt ist, wußte, jetzt ist mein hartes Herz besiegt und überzeugt!"
Die halbe Nacht verging den Gatten unter gegen¬ seitiger Erzählung des unendlichen Elendes, das sie beide in den zwanzig verflossenen Jahren erduldet, und der Königin kam kein Schlaf in die Augenlieder, bis ihr Gemahl von allen seinen Irrfahrten ihr den ausführlich¬ sten Bericht abgestattet hatte.
Endlich begab sich Alles im Palaste zur erwünschten Ruhe, und suchte Erholung von den erschütternden Be¬ gebenheiten des Tages.
Odysseus und Laertes.
Am andern Morgen hatte sich Odysseus in aller Frühe reisefertig gemacht. "Liebes Weib," sprach er zu Penelope, "wir beide haben bisher den Becher des Lei¬ dens bis zur Neige geleert, du mein Ausbleiben bewei¬ nend, ich durch Jupiter und andere Götter von der Heimkehr ins Vaterland abgehalten. Jetzt, nachdem wir beide wieder vereinigt sind, unsere Herrschaft, unser Be¬ sitz uns wieder gesichert ist, sorge du für alles Gut, das mir im Palaste noch geblieben ist. Was die Freier in
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Alter nahen ſollten. Du mußt mir nicht gram ſeyn, daß ich dich nicht auf der Stelle zärtlich willkommen geheißen habe. Mein armes Herz war in beſtändiger Angſt, es möchte mich irgend ein ſchlauer Betrüger täuſchen. Jetzt, nachdem du mir genannt haſt, was kein Sterb¬ licher außer dir und mir und unſerer alten Pförtnerin Ak¬ toris, die mir aus dem väterlichen Hauſe hieher gefolgt iſt, wußte, jetzt iſt mein hartes Herz beſiegt und überzeugt!„
Die halbe Nacht verging den Gatten unter gegen¬ ſeitiger Erzählung des unendlichen Elendes, das ſie beide in den zwanzig verfloſſenen Jahren erduldet, und der Königin kam kein Schlaf in die Augenlieder, bis ihr Gemahl von allen ſeinen Irrfahrten ihr den ausführlich¬ ſten Bericht abgeſtattet hatte.
Endlich begab ſich Alles im Palaſte zur erwünſchten Ruhe, und ſuchte Erholung von den erſchütternden Be¬ gebenheiten des Tages.
Odyſſeus und Laertes.
Am andern Morgen hatte ſich Odyſſeus in aller Frühe reiſefertig gemacht. „Liebes Weib,“ ſprach er zu Penelope, „wir beide haben bisher den Becher des Lei¬ dens bis zur Neige geleert, du mein Ausbleiben bewei¬ nend, ich durch Jupiter und andere Götter von der Heimkehr ins Vaterland abgehalten. Jetzt, nachdem wir beide wieder vereinigt ſind, unſere Herrſchaft, unſer Be¬ ſitz uns wieder geſichert iſt, ſorge du für alles Gut, das mir im Palaſte noch geblieben iſt. Was die Freier in
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Alter nahen ſollten. Du mußt mir nicht gram ſeyn, daß
ich dich nicht auf der Stelle zärtlich willkommen geheißen
habe. Mein armes Herz war in beſtändiger Angſt,
es möchte mich irgend ein ſchlauer Betrüger täuſchen.
Jetzt, nachdem du mir genannt haſt, was kein Sterb¬
licher außer dir und mir und unſerer alten Pförtnerin Ak¬
toris, die mir aus dem väterlichen Hauſe hieher gefolgt iſt,
wußte, jetzt iſt mein hartes Herz beſiegt und überzeugt!„
Die halbe Nacht verging den Gatten unter gegen¬
ſeitiger Erzählung des unendlichen Elendes, das ſie beide
in den zwanzig verfloſſenen Jahren erduldet, und der
Königin kam kein Schlaf in die Augenlieder, bis ihr
Gemahl von allen ſeinen Irrfahrten ihr den ausführlich¬
ſten Bericht abgeſtattet hatte.
Endlich begab ſich Alles im Palaſte zur erwünſchten
Ruhe, und ſuchte Erholung von den erſchütternden Be¬
gebenheiten des Tages.
Odyſſeus und Laertes.
Am andern Morgen hatte ſich Odyſſeus in aller
Frühe reiſefertig gemacht. „Liebes Weib,“ ſprach er zu
Penelope, „wir beide haben bisher den Becher des Lei¬
dens bis zur Neige geleert, du mein Ausbleiben bewei¬
nend, ich durch Jupiter und andere Götter von der
Heimkehr ins Vaterland abgehalten. Jetzt, nachdem wir
beide wieder vereinigt ſind, unſere Herrſchaft, unſer Be¬
ſitz uns wieder geſichert iſt, ſorge du für alles Gut, das
mir im Palaſte noch geblieben iſt. Was die Freier in
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/297>, abgerufen am 21.11.2024.
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