Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Fluß sich ins Meer ergoß. Hier flehte er zum Gotte dieses
Stromes, der ihn hörte, das Wasser besänftigte und
ihm möglich machte, schwimmend das Land zu erreichen.
Ohne Stimme und Athem sank er auf den Boden,
aus Mund und Nase strömte ihm das Meerwasser, und,
erstarrt von der fürchterlichen Anstrengung, sank er in
eine Ohnmacht. Als er wieder aufzuathmen anfing und
das Bewußtseyn ihm zurückkehrte, löste er sich den Schleier
der Göttin Leukothea dankbar ab und warf ihn in die
Wellen zurück, daß ihn die Geberin wieder erfassen
konnte; dann warf er sich unter die Binsen nieder und
küßte die wiedergewonnene Erde. Den nackten Mann
fror und die Nachtluft wehte schneidend von Morgen
her. Er beschloß den Hügel hinanzugehen, und sich in die
nahe Waldung zu bergen. Hier fand er ein Lager unter
zwei verschlungenen dichten Olivenbäumen, einem wilden
und einem zahmen, die so dick belaubt waren, daß kein
Wind, kein Regen und kein Sonnenstrahl sie je durch¬
drang. Dort häufte sich Odysseus von der Menge ge¬
fallener Baumblätter ein Lager, legte sich mitten hinein,
und deckte sich wieder mit Blättern zu. Ein erquickender
Schlaf ergoß sich bald über seine Augenlieder und ließ
ihn alles überstandene und bevorstehende Leid vergessen.


Nausikaa.

Während Odysseus von Anstrengung und Schlaf über¬
wältigt im Walde lag, war seine Beschützerin Athene lieb¬
reich für ihn bedacht. Sie eilte in das Gebiet der Phäa¬
ken, auf dem er angekommen war, welche die Insel Scheria

Fluß ſich ins Meer ergoß. Hier flehte er zum Gotte dieſes
Stromes, der ihn hörte, das Waſſer beſänftigte und
ihm möglich machte, ſchwimmend das Land zu erreichen.
Ohne Stimme und Athem ſank er auf den Boden,
aus Mund und Naſe ſtrömte ihm das Meerwaſſer, und,
erſtarrt von der fürchterlichen Anſtrengung, ſank er in
eine Ohnmacht. Als er wieder aufzuathmen anfing und
das Bewußtſeyn ihm zurückkehrte, löste er ſich den Schleier
der Göttin Leukothea dankbar ab und warf ihn in die
Wellen zurück, daß ihn die Geberin wieder erfaſſen
konnte; dann warf er ſich unter die Binſen nieder und
küßte die wiedergewonnene Erde. Den nackten Mann
fror und die Nachtluft wehte ſchneidend von Morgen
her. Er beſchloß den Hügel hinanzugehen, und ſich in die
nahe Waldung zu bergen. Hier fand er ein Lager unter
zwei verſchlungenen dichten Olivenbäumen, einem wilden
und einem zahmen, die ſo dick belaubt waren, daß kein
Wind, kein Regen und kein Sonnenſtrahl ſie je durch¬
drang. Dort häufte ſich Odyſſeus von der Menge ge¬
fallener Baumblätter ein Lager, legte ſich mitten hinein,
und deckte ſich wieder mit Blättern zu. Ein erquickender
Schlaf ergoß ſich bald über ſeine Augenlieder und ließ
ihn alles überſtandene und bevorſtehende Leid vergeſſen.


Nauſikaa.

Während Odyſſeus von Anſtrengung und Schlaf über¬
wältigt im Walde lag, war ſeine Beſchützerin Athene lieb¬
reich für ihn bedacht. Sie eilte in das Gebiet der Phäa¬
ken, auf dem er angekommen war, welche die Inſel Scheria

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0122" n="100"/>
Fluß &#x017F;ich ins Meer ergoß. Hier flehte er zum Gotte die&#x017F;es<lb/>
Stromes, der ihn hörte, das Wa&#x017F;&#x017F;er be&#x017F;änftigte und<lb/>
ihm möglich machte, &#x017F;chwimmend das Land zu erreichen.<lb/>
Ohne Stimme und Athem &#x017F;ank er auf den Boden,<lb/>
aus Mund und Na&#x017F;e &#x017F;trömte ihm das Meerwa&#x017F;&#x017F;er, und,<lb/>
er&#x017F;tarrt von der fürchterlichen An&#x017F;trengung, &#x017F;ank er in<lb/>
eine Ohnmacht. Als er wieder aufzuathmen anfing und<lb/>
das Bewußt&#x017F;eyn ihm zurückkehrte, löste er &#x017F;ich den Schleier<lb/>
der Göttin Leukothea dankbar ab und warf ihn in die<lb/>
Wellen zurück, daß ihn die Geberin wieder erfa&#x017F;&#x017F;en<lb/>
konnte; dann warf er &#x017F;ich unter die Bin&#x017F;en nieder und<lb/>
küßte die wiedergewonnene Erde. Den nackten Mann<lb/>
fror und die Nachtluft wehte &#x017F;chneidend von Morgen<lb/>
her. Er be&#x017F;chloß den Hügel hinanzugehen, und &#x017F;ich in die<lb/>
nahe Waldung zu bergen. Hier fand er ein Lager unter<lb/>
zwei ver&#x017F;chlungenen dichten Olivenbäumen, einem wilden<lb/>
und einem zahmen, die &#x017F;o dick belaubt waren, daß kein<lb/>
Wind, kein Regen und kein Sonnen&#x017F;trahl &#x017F;ie je durch¬<lb/>
drang. Dort häufte &#x017F;ich Ody&#x017F;&#x017F;eus von der Menge ge¬<lb/>
fallener Baumblätter ein Lager, legte &#x017F;ich mitten hinein,<lb/>
und deckte &#x017F;ich wieder mit Blättern zu. Ein erquickender<lb/>
Schlaf ergoß &#x017F;ich bald über &#x017F;eine Augenlieder und ließ<lb/>
ihn alles über&#x017F;tandene und bevor&#x017F;tehende Leid verge&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Nau&#x017F;ikaa.</hi><lb/>
            </head>
            <p>Während Ody&#x017F;&#x017F;eus von An&#x017F;trengung und Schlaf über¬<lb/>
wältigt im Walde lag, war &#x017F;eine Be&#x017F;chützerin Athene lieb¬<lb/>
reich für ihn bedacht. Sie eilte in das Gebiet der Phäa¬<lb/>
ken, auf dem er angekommen war, welche die In&#x017F;el Scheria<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0122] Fluß ſich ins Meer ergoß. Hier flehte er zum Gotte dieſes Stromes, der ihn hörte, das Waſſer beſänftigte und ihm möglich machte, ſchwimmend das Land zu erreichen. Ohne Stimme und Athem ſank er auf den Boden, aus Mund und Naſe ſtrömte ihm das Meerwaſſer, und, erſtarrt von der fürchterlichen Anſtrengung, ſank er in eine Ohnmacht. Als er wieder aufzuathmen anfing und das Bewußtſeyn ihm zurückkehrte, löste er ſich den Schleier der Göttin Leukothea dankbar ab und warf ihn in die Wellen zurück, daß ihn die Geberin wieder erfaſſen konnte; dann warf er ſich unter die Binſen nieder und küßte die wiedergewonnene Erde. Den nackten Mann fror und die Nachtluft wehte ſchneidend von Morgen her. Er beſchloß den Hügel hinanzugehen, und ſich in die nahe Waldung zu bergen. Hier fand er ein Lager unter zwei verſchlungenen dichten Olivenbäumen, einem wilden und einem zahmen, die ſo dick belaubt waren, daß kein Wind, kein Regen und kein Sonnenſtrahl ſie je durch¬ drang. Dort häufte ſich Odyſſeus von der Menge ge¬ fallener Baumblätter ein Lager, legte ſich mitten hinein, und deckte ſich wieder mit Blättern zu. Ein erquickender Schlaf ergoß ſich bald über ſeine Augenlieder und ließ ihn alles überſtandene und bevorſtehende Leid vergeſſen. Nauſikaa. Während Odyſſeus von Anſtrengung und Schlaf über¬ wältigt im Walde lag, war ſeine Beſchützerin Athene lieb¬ reich für ihn bedacht. Sie eilte in das Gebiet der Phäa¬ ken, auf dem er angekommen war, welche die Inſel Scheria

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/122
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/122>, abgerufen am 22.12.2024.