Im griechischen Lager hatte sich der Schrecken von der Flucht noch nicht gelegt, als Agamemnon die Fürsten Mann für Mann, doch nicht laut, zu einer Rathsversamm¬ lung rufen ließ. Tiefbekümmert saßen sie bald beisammen und unter schweren Seufzern sprach der Völkerfürst: "Freunde und Pfleger des Volkes, in schwere Schuld hat mich Jupiter verstrickt. Er, dessen gnädiger Wink mir verheißen hatte, daß ich als Sieger nach Vertilgung Tro¬ ja's heimgehen sollte, hat mich betrogen und befiehlt mir jetzt, so viele tapfere Männer auf der Wahlstadt zurück¬ lassend, ruhmlos nach Argos heimzukehren. Vergebens widersetzen wir uns dem Willen dessen, der schon so vie¬ len Städten das Haupt zerschmettert hat und noch zer¬ schmettern wird. Aber Troja sollen wir nicht erobern. So gehorchet mir denn, und laßt uns auf den schnellen Schiffen zum Lande der Väter fliehen!"
Lang blieben die bekümmerten Helden Griechenlands stumm, als sie das traurige Wort vernommen hatten, bis endlich Diomedes zu reden begann: "Zwar schmähtest du jüngst," sprach er: "meinen Muth und meine Tapferkeit vor den Griechen, o König! jetzt aber will mir bedünken, daß dir selbst Jupiter mit dem Scepter der Macht die Tapferkeit nicht verliehen hat. Glaubst du denn im Ernste, die Männer Griechenlands seyen so unkriegerisch, wie du geredet? Wohl, wenn dich das Herz so sehr nach der Heimath drängt, so wandre! der Weg ist frei, und dein Schiff steht bereit! Wir andern Achiver wollen bleiben,
Botſchaft der Griechen an Achilles.
Im griechiſchen Lager hatte ſich der Schrecken von der Flucht noch nicht gelegt, als Agamemnon die Fürſten Mann für Mann, doch nicht laut, zu einer Rathsverſamm¬ lung rufen ließ. Tiefbekümmert ſaßen ſie bald beiſammen und unter ſchweren Seufzern ſprach der Völkerfürſt: „Freunde und Pfleger des Volkes, in ſchwere Schuld hat mich Jupiter verſtrickt. Er, deſſen gnädiger Wink mir verheißen hatte, daß ich als Sieger nach Vertilgung Tro¬ ja's heimgehen ſollte, hat mich betrogen und befiehlt mir jetzt, ſo viele tapfere Männer auf der Wahlſtadt zurück¬ laſſend, ruhmlos nach Argos heimzukehren. Vergebens widerſetzen wir uns dem Willen deſſen, der ſchon ſo vie¬ len Städten das Haupt zerſchmettert hat und noch zer¬ ſchmettern wird. Aber Troja ſollen wir nicht erobern. So gehorchet mir denn, und laßt uns auf den ſchnellen Schiffen zum Lande der Väter fliehen!“
Lang blieben die bekümmerten Helden Griechenlands ſtumm, als ſie das traurige Wort vernommen hatten, bis endlich Diomedes zu reden begann: „Zwar ſchmähteſt du jüngſt,“ ſprach er: „meinen Muth und meine Tapferkeit vor den Griechen, o König! jetzt aber will mir bedünken, daß dir ſelbſt Jupiter mit dem Scepter der Macht die Tapferkeit nicht verliehen hat. Glaubſt du denn im Ernſte, die Männer Griechenlands ſeyen ſo unkriegeriſch, wie du geredet? Wohl, wenn dich das Herz ſo ſehr nach der Heimath drängt, ſo wandre! der Weg iſt frei, und dein Schiff ſteht bereit! Wir andern Achiver wollen bleiben,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0182"n="160"/></div><divn="2"><head><hirendition="#b">Botſchaft der Griechen an Achilles.</hi><lb/></head><p>Im griechiſchen Lager hatte ſich der Schrecken von<lb/>
der Flucht noch nicht gelegt, als Agamemnon die Fürſten<lb/>
Mann für Mann, doch nicht laut, zu einer Rathsverſamm¬<lb/>
lung rufen ließ. Tiefbekümmert ſaßen ſie bald beiſammen<lb/>
und unter ſchweren Seufzern ſprach der Völkerfürſt:<lb/>„Freunde und Pfleger des Volkes, in ſchwere Schuld hat<lb/>
mich Jupiter verſtrickt. Er, deſſen gnädiger Wink mir<lb/>
verheißen hatte, daß ich als Sieger nach Vertilgung Tro¬<lb/>
ja's heimgehen ſollte, hat mich betrogen und befiehlt mir<lb/>
jetzt, ſo viele tapfere Männer auf der Wahlſtadt zurück¬<lb/>
laſſend, ruhmlos nach Argos heimzukehren. Vergebens<lb/>
widerſetzen wir uns dem Willen deſſen, der ſchon ſo vie¬<lb/>
len Städten das Haupt zerſchmettert hat und noch zer¬<lb/>ſchmettern wird. Aber Troja ſollen wir nicht erobern.<lb/>
So gehorchet mir denn, und laßt uns auf den ſchnellen<lb/>
Schiffen zum Lande der Väter fliehen!“</p><lb/><p>Lang blieben die bekümmerten Helden Griechenlands<lb/>ſtumm, als ſie das traurige Wort vernommen hatten, bis<lb/>
endlich Diomedes zu reden begann: „Zwar ſchmähteſt du<lb/>
jüngſt,“ſprach er: „meinen Muth und meine Tapferkeit<lb/>
vor den Griechen, o König! jetzt aber will mir bedünken,<lb/>
daß dir ſelbſt Jupiter mit dem Scepter der Macht die<lb/>
Tapferkeit nicht verliehen hat. Glaubſt du denn im Ernſte,<lb/>
die Männer Griechenlands ſeyen ſo unkriegeriſch, wie du<lb/>
geredet? Wohl, wenn dich das Herz ſo ſehr nach der<lb/>
Heimath drängt, ſo wandre! der Weg iſt frei, und dein<lb/>
Schiff ſteht bereit! Wir andern Achiver wollen bleiben,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[160/0182]
Botſchaft der Griechen an Achilles.
Im griechiſchen Lager hatte ſich der Schrecken von
der Flucht noch nicht gelegt, als Agamemnon die Fürſten
Mann für Mann, doch nicht laut, zu einer Rathsverſamm¬
lung rufen ließ. Tiefbekümmert ſaßen ſie bald beiſammen
und unter ſchweren Seufzern ſprach der Völkerfürſt:
„Freunde und Pfleger des Volkes, in ſchwere Schuld hat
mich Jupiter verſtrickt. Er, deſſen gnädiger Wink mir
verheißen hatte, daß ich als Sieger nach Vertilgung Tro¬
ja's heimgehen ſollte, hat mich betrogen und befiehlt mir
jetzt, ſo viele tapfere Männer auf der Wahlſtadt zurück¬
laſſend, ruhmlos nach Argos heimzukehren. Vergebens
widerſetzen wir uns dem Willen deſſen, der ſchon ſo vie¬
len Städten das Haupt zerſchmettert hat und noch zer¬
ſchmettern wird. Aber Troja ſollen wir nicht erobern.
So gehorchet mir denn, und laßt uns auf den ſchnellen
Schiffen zum Lande der Väter fliehen!“
Lang blieben die bekümmerten Helden Griechenlands
ſtumm, als ſie das traurige Wort vernommen hatten, bis
endlich Diomedes zu reden begann: „Zwar ſchmähteſt du
jüngſt,“ ſprach er: „meinen Muth und meine Tapferkeit
vor den Griechen, o König! jetzt aber will mir bedünken,
daß dir ſelbſt Jupiter mit dem Scepter der Macht die
Tapferkeit nicht verliehen hat. Glaubſt du denn im Ernſte,
die Männer Griechenlands ſeyen ſo unkriegeriſch, wie du
geredet? Wohl, wenn dich das Herz ſo ſehr nach der
Heimath drängt, ſo wandre! der Weg iſt frei, und dein
Schiff ſteht bereit! Wir andern Achiver wollen bleiben,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/182>, abgerufen am 17.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.