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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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deine Gegenwart die Stadt doch nicht entweihe." -- "Von
wem weißt du alles dieses?" fragte der Vater. "Von
Opferpilgern, die nach Delphi ziehen." "Und wenn ich
dort sterbe," fragte Oedipus weiter, "werden sie mich in
thebischer Erde begraben?" "Nein," erwiederte die Jung¬
frau, "das duldet deine Blutschuld nicht." -- "Nun," rief
der alte König entrüstet, "so sollen sie auch meiner nie¬
mals mächtig werden! Wenn bei meinen beiden Söh¬
nen die Herrschsucht stärker ist, als die kindliche Liebe,
so soll ihnen auch der Himmel nie ihre verhängnißvolle
Zwietracht löschen, und, wenn auf mir die Entscheidung
ihres Streites beruht, so soll weder der, der jetzt den
Scepter in Händen hat, auf dem Throne sitzen bleiben,
noch der Verjagte je sein Vaterland wieder sehen! Nur
diese Töchter sind meine wahren Kinder! In ihnen er¬
sterbe meine Schuld, für sie erflehe ich den Segen des
Himmels, für sie bitte ich auch um euren Schutz, mit¬
leidige Freunde! Gewähret ihnen und mir euren thäti¬
gen Beistand, und ihr erwerbet dadurch eurer Stadt eine
mächtige Brustwehr!"


Oedipus und Theseus .

Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blin¬
den Oedipus erfüllt, der in seiner Verbannung noch so
gewaltig erschien: sie riethen ihm durch ein Trankopfer
die Entweihung des Furienhaines zu sühnen. Erst jetzt
erfuhren auch die Greise den Namen und die unverschuldete
Schuld des Königs Oedipus, und wer weiß, ob das
Grauen vor seiner That sie nicht auf's neue gegen ihn

deine Gegenwart die Stadt doch nicht entweihe.“ — „Von
wem weißt du alles dieſes?“ fragte der Vater. „Von
Opferpilgern, die nach Delphi ziehen.“ „Und wenn ich
dort ſterbe,“ fragte Oedipus weiter, „werden ſie mich in
thebiſcher Erde begraben?“ „Nein,“ erwiederte die Jung¬
frau, „das duldet deine Blutſchuld nicht.“ — „Nun,“ rief
der alte König entrüſtet, „ſo ſollen ſie auch meiner nie¬
mals mächtig werden! Wenn bei meinen beiden Söh¬
nen die Herrſchſucht ſtärker iſt, als die kindliche Liebe,
ſo ſoll ihnen auch der Himmel nie ihre verhängnißvolle
Zwietracht löſchen, und, wenn auf mir die Entſcheidung
ihres Streites beruht, ſo ſoll weder der, der jetzt den
Scepter in Händen hat, auf dem Throne ſitzen bleiben,
noch der Verjagte je ſein Vaterland wieder ſehen! Nur
dieſe Töchter ſind meine wahren Kinder! In ihnen er¬
ſterbe meine Schuld, für ſie erflehe ich den Segen des
Himmels, für ſie bitte ich auch um euren Schutz, mit¬
leidige Freunde! Gewähret ihnen und mir euren thäti¬
gen Beiſtand, und ihr erwerbet dadurch eurer Stadt eine
mächtige Bruſtwehr!“


Oedipus und Theſeus .

Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blin¬
den Oedipus erfüllt, der in ſeiner Verbannung noch ſo
gewaltig erſchien: ſie riethen ihm durch ein Trankopfer
die Entweihung des Furienhaines zu ſühnen. Erſt jetzt
erfuhren auch die Greiſe den Namen und die unverſchuldete
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[333/0359] deine Gegenwart die Stadt doch nicht entweihe.“ — „Von wem weißt du alles dieſes?“ fragte der Vater. „Von Opferpilgern, die nach Delphi ziehen.“ „Und wenn ich dort ſterbe,“ fragte Oedipus weiter, „werden ſie mich in thebiſcher Erde begraben?“ „Nein,“ erwiederte die Jung¬ frau, „das duldet deine Blutſchuld nicht.“ — „Nun,“ rief der alte König entrüſtet, „ſo ſollen ſie auch meiner nie¬ mals mächtig werden! Wenn bei meinen beiden Söh¬ nen die Herrſchſucht ſtärker iſt, als die kindliche Liebe, ſo ſoll ihnen auch der Himmel nie ihre verhängnißvolle Zwietracht löſchen, und, wenn auf mir die Entſcheidung ihres Streites beruht, ſo ſoll weder der, der jetzt den Scepter in Händen hat, auf dem Throne ſitzen bleiben, noch der Verjagte je ſein Vaterland wieder ſehen! Nur dieſe Töchter ſind meine wahren Kinder! In ihnen er¬ ſterbe meine Schuld, für ſie erflehe ich den Segen des Himmels, für ſie bitte ich auch um euren Schutz, mit¬ leidige Freunde! Gewähret ihnen und mir euren thäti¬ gen Beiſtand, und ihr erwerbet dadurch eurer Stadt eine mächtige Bruſtwehr!“ Oedipus und Theſeus . Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blin¬ den Oedipus erfüllt, der in ſeiner Verbannung noch ſo gewaltig erſchien: ſie riethen ihm durch ein Trankopfer die Entweihung des Furienhaines zu ſühnen. Erſt jetzt erfuhren auch die Greiſe den Namen und die unverſchuldete Schuld des Königs Oedipus, und wer weiß, ob das Grauen vor ſeiner That ſie nicht auf's neue gegen ihn

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/359>, abgerufen am 17.11.2024.