Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

mußte ein so schweres Vergehen freilich werden, wenn es
auch unfreiwillig war; aber ewig sollte die Strafe nicht
währen. Darum eröffnete ihm der Gott: "nach langer
Frist zwar, aber endlich doch harre seiner die Erlösung,
wenn er zu dem ihm vom Schicksale bestimmten Lande
gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die stren¬
gen Eumeniden, ihm eine Zufluchtsstätte gönnten." Nun
war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein
Beiname der Erinnyen oder Furien, der Göttinnen der
Rache, welche die Sterblichen mit einem so begütigenden
Namen ehren und besänftigen wollten. Der Orakelspruch
lautete räthselhaft und schauerlich. Bei den Furien sollte
Oedipus für seine Sünden gegen die Natur Ruhe
und Erlösung von seiner Strafe finden! Dennoch ver¬
traute er auf die Verheißung des Gottes, und zog nun,
dem Schicksal überlassend, wann die Erfüllung eintreten
sollte, in Griechenland herum, von seiner frommen Toch¬
ter geleitet und gepflegt, und vom Almosen mitleidiger
Menschen erhalten. Immer bat er nur um Weniges,
und erhielt auch nur Weniges. Aber er begnügte sich
damit immer, denn die lange Dauer seiner Verbannung,
die Noth, und seine eigene edle Sinnesart lehrten ihn
Begnügsamkeit.


Oedipus auf Kolonos .

Nach langer Wanderung, bald durch bewohntes,
bald durch wüstes Land waren die beiden eines Abends
in einer sehr milden Gegend bei einem anmuthigen Dorfe
mitten im lieblichsten Haine angekommen. Nachtigallen

mußte ein ſo ſchweres Vergehen freilich werden, wenn es
auch unfreiwillig war; aber ewig ſollte die Strafe nicht
währen. Darum eröffnete ihm der Gott: „nach langer
Friſt zwar, aber endlich doch harre ſeiner die Erlöſung,
wenn er zu dem ihm vom Schickſale beſtimmten Lande
gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die ſtren¬
gen Eumeniden, ihm eine Zufluchtsſtätte gönnten.“ Nun
war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein
Beiname der Erinnyen oder Furien, der Göttinnen der
Rache, welche die Sterblichen mit einem ſo begütigenden
Namen ehren und beſänftigen wollten. Der Orakelſpruch
lautete räthſelhaft und ſchauerlich. Bei den Furien ſollte
Oedipus für ſeine Sünden gegen die Natur Ruhe
und Erlöſung von ſeiner Strafe finden! Dennoch ver¬
traute er auf die Verheißung des Gottes, und zog nun,
dem Schickſal überlaſſend, wann die Erfüllung eintreten
ſollte, in Griechenland herum, von ſeiner frommen Toch¬
ter geleitet und gepflegt, und vom Almoſen mitleidiger
Menſchen erhalten. Immer bat er nur um Weniges,
und erhielt auch nur Weniges. Aber er begnügte ſich
damit immer, denn die lange Dauer ſeiner Verbannung,
die Noth, und ſeine eigene edle Sinnesart lehrten ihn
Begnügſamkeit.


Oedipus auf Kolonos .

Nach langer Wanderung, bald durch bewohntes,
bald durch wüſtes Land waren die beiden eines Abends
in einer ſehr milden Gegend bei einem anmuthigen Dorfe
mitten im lieblichſten Haine angekommen. Nachtigallen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0354" n="328"/>
mußte ein &#x017F;o &#x017F;chweres Vergehen freilich werden, wenn es<lb/>
auch unfreiwillig war; aber ewig &#x017F;ollte die Strafe nicht<lb/>
währen. Darum eröffnete ihm der Gott: &#x201E;nach langer<lb/>
Fri&#x017F;t zwar, aber endlich doch harre &#x017F;einer die Erlö&#x017F;ung,<lb/>
wenn er zu dem ihm vom Schick&#x017F;ale be&#x017F;timmten Lande<lb/>
gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die &#x017F;tren¬<lb/>
gen Eumeniden, ihm eine Zufluchts&#x017F;tätte gönnten.&#x201C; Nun<lb/>
war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein<lb/>
Beiname der Erinnyen oder Furien, der Göttinnen der<lb/>
Rache, welche die Sterblichen mit einem &#x017F;o begütigenden<lb/>
Namen ehren und be&#x017F;änftigen wollten. Der Orakel&#x017F;pruch<lb/>
lautete räth&#x017F;elhaft und &#x017F;chauerlich. Bei den Furien &#x017F;ollte<lb/>
Oedipus für &#x017F;eine Sünden gegen die Natur Ruhe<lb/>
und Erlö&#x017F;ung von &#x017F;einer Strafe finden! Dennoch ver¬<lb/>
traute er auf die Verheißung des Gottes, und zog nun,<lb/>
dem Schick&#x017F;al überla&#x017F;&#x017F;end, wann die Erfüllung eintreten<lb/>
&#x017F;ollte, in Griechenland herum, von &#x017F;einer frommen Toch¬<lb/>
ter geleitet und gepflegt, und vom Almo&#x017F;en mitleidiger<lb/>
Men&#x017F;chen erhalten. Immer bat er nur um Weniges,<lb/>
und erhielt auch nur Weniges. Aber er begnügte &#x017F;ich<lb/>
damit immer, denn die lange Dauer &#x017F;einer Verbannung,<lb/>
die Noth, und &#x017F;eine eigene edle Sinnesart lehrten ihn<lb/>
Begnüg&#x017F;amkeit.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#fr #g">Oedipus auf Kolonos</hi> <hi rendition="#g">.</hi><lb/>
            </head>
            <p>Nach langer Wanderung, bald durch bewohntes,<lb/>
bald durch wü&#x017F;tes Land waren die beiden eines Abends<lb/>
in einer &#x017F;ehr milden Gegend bei einem anmuthigen Dorfe<lb/>
mitten im lieblich&#x017F;ten Haine angekommen. Nachtigallen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[328/0354] mußte ein ſo ſchweres Vergehen freilich werden, wenn es auch unfreiwillig war; aber ewig ſollte die Strafe nicht währen. Darum eröffnete ihm der Gott: „nach langer Friſt zwar, aber endlich doch harre ſeiner die Erlöſung, wenn er zu dem ihm vom Schickſale beſtimmten Lande gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die ſtren¬ gen Eumeniden, ihm eine Zufluchtsſtätte gönnten.“ Nun war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein Beiname der Erinnyen oder Furien, der Göttinnen der Rache, welche die Sterblichen mit einem ſo begütigenden Namen ehren und beſänftigen wollten. Der Orakelſpruch lautete räthſelhaft und ſchauerlich. Bei den Furien ſollte Oedipus für ſeine Sünden gegen die Natur Ruhe und Erlöſung von ſeiner Strafe finden! Dennoch ver¬ traute er auf die Verheißung des Gottes, und zog nun, dem Schickſal überlaſſend, wann die Erfüllung eintreten ſollte, in Griechenland herum, von ſeiner frommen Toch¬ ter geleitet und gepflegt, und vom Almoſen mitleidiger Menſchen erhalten. Immer bat er nur um Weniges, und erhielt auch nur Weniges. Aber er begnügte ſich damit immer, denn die lange Dauer ſeiner Verbannung, die Noth, und ſeine eigene edle Sinnesart lehrten ihn Begnügſamkeit. Oedipus auf Kolonos . Nach langer Wanderung, bald durch bewohntes, bald durch wüſtes Land waren die beiden eines Abends in einer ſehr milden Gegend bei einem anmuthigen Dorfe mitten im lieblichſten Haine angekommen. Nachtigallen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/354
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/354>, abgerufen am 17.11.2024.