Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite
Medea verspricht den Argonauten Hülfe.

Die Jungfrau erröthete bei diesen Fragen ihrer
Schwester, und Schaam verhinderte sie, zu antworten:
bald schwebte ihr die Rede zu äußerst auf der Zunge,
bald floh sie in die tiefste Brust zurück. Endlich machte
sie die Liebe kühn, und sie sprach mit verschlagenen Wor¬
ten: "Chalciope, mein Herz ist betrübt um deine Söhne,
es möchte sie der Vater mit den fremden Männern auf
der Stelle tödten. Solches verkündet mir ein schwerer
Traum, möge ein Gott ihm die Erfüllung verweigern."
Unerträgliche Angst bemächtigte sich der Schwester: "Eben
deswegen komme ich zu dir," sprach sie, "und beschwöre
dich, mir gegen unsern Vater beizustehen. Weigerst du
dich, so werde ich mit meinen ermordeten Söhnen dich
noch vom Orkus aus als Furie umschweben!" Sie um¬
faßte mit beiden Händen Medeens Knie und warf das
Haupt in ihren Schooß; beide Schwestern weinten bit¬
terlich. Dann sprach Medea: "Was redest du von Fu¬
rien, Schwester? Beim Himmel und der Erde schwöre
ich dir, was ich thun kann, deine Söhne zu retten, will
ich gerne thun." "Nun," fuhr die Schwester fort, "so
wirst du auch dem Fremdling um meiner Kinder willen
irgend einen Trug an die Hand geben, jenen furchtbaren
Kampf glücklich zu bestehen, denn von ihm gesendet, fleht
mein Sohn Argos mich an, dem Gastfreunde deine Hülfe
zu erbitten."

Das Herz hüpfte der Jungfrau vor Freuden im
Leibe, als sie dieses hörte, ihr schönes Angesicht erröthete,
ihr funkelndes Auge umhüllte einen Augenblick der Schwin¬

Medea verſpricht den Argonauten Hülfe.

Die Jungfrau erröthete bei dieſen Fragen ihrer
Schweſter, und Schaam verhinderte ſie, zu antworten:
bald ſchwebte ihr die Rede zu äußerſt auf der Zunge,
bald floh ſie in die tiefſte Bruſt zurück. Endlich machte
ſie die Liebe kühn, und ſie ſprach mit verſchlagenen Wor¬
ten: „Chalciope, mein Herz iſt betrübt um deine Söhne,
es möchte ſie der Vater mit den fremden Männern auf
der Stelle tödten. Solches verkündet mir ein ſchwerer
Traum, möge ein Gott ihm die Erfüllung verweigern.“
Unerträgliche Angſt bemächtigte ſich der Schweſter: „Eben
deswegen komme ich zu dir,“ ſprach ſie, „und beſchwöre
dich, mir gegen unſern Vater beizuſtehen. Weigerſt du
dich, ſo werde ich mit meinen ermordeten Söhnen dich
noch vom Orkus aus als Furie umſchweben!“ Sie um¬
faßte mit beiden Händen Medeens Knie und warf das
Haupt in ihren Schooß; beide Schweſtern weinten bit¬
terlich. Dann ſprach Medea: „Was redeſt du von Fu¬
rien, Schweſter? Beim Himmel und der Erde ſchwöre
ich dir, was ich thun kann, deine Söhne zu retten, will
ich gerne thun.“ „Nun,“ fuhr die Schweſter fort, „ſo
wirſt du auch dem Fremdling um meiner Kinder willen
irgend einen Trug an die Hand geben, jenen furchtbaren
Kampf glücklich zu beſtehen, denn von ihm geſendet, fleht
mein Sohn Argos mich an, dem Gaſtfreunde deine Hülfe
zu erbitten.“

Das Herz hüpfte der Jungfrau vor Freuden im
Leibe, als ſie dieſes hörte, ihr ſchönes Angeſicht erröthete,
ihr funkelndes Auge umhüllte einen Augenblick der Schwin¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0156" n="130"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#fr">Medea ver&#x017F;pricht den Argonauten Hülfe.</hi><lb/>
            </head>
            <p>Die Jungfrau erröthete bei die&#x017F;en Fragen ihrer<lb/>
Schwe&#x017F;ter, und Schaam verhinderte &#x017F;ie, zu antworten:<lb/>
bald &#x017F;chwebte ihr die Rede zu äußer&#x017F;t auf der Zunge,<lb/>
bald floh &#x017F;ie in die tief&#x017F;te Bru&#x017F;t zurück. Endlich machte<lb/>
&#x017F;ie die Liebe kühn, und &#x017F;ie &#x017F;prach mit ver&#x017F;chlagenen Wor¬<lb/>
ten: &#x201E;Chalciope, mein Herz i&#x017F;t betrübt um deine Söhne,<lb/>
es möchte &#x017F;ie der Vater mit den fremden Männern auf<lb/>
der Stelle tödten. Solches verkündet mir ein &#x017F;chwerer<lb/>
Traum, möge ein Gott ihm die Erfüllung verweigern.&#x201C;<lb/>
Unerträgliche Ang&#x017F;t bemächtigte &#x017F;ich der Schwe&#x017F;ter: &#x201E;Eben<lb/>
deswegen komme ich zu dir,&#x201C; &#x017F;prach &#x017F;ie, &#x201E;und be&#x017F;chwöre<lb/>
dich, mir gegen un&#x017F;ern Vater beizu&#x017F;tehen. Weiger&#x017F;t du<lb/>
dich, &#x017F;o werde ich mit meinen ermordeten Söhnen dich<lb/>
noch vom Orkus aus als Furie um&#x017F;chweben!&#x201C; Sie um¬<lb/>
faßte mit beiden Händen Medeens Knie und warf das<lb/>
Haupt in ihren Schooß; beide Schwe&#x017F;tern weinten bit¬<lb/>
terlich. Dann &#x017F;prach Medea: &#x201E;Was rede&#x017F;t du von Fu¬<lb/>
rien, Schwe&#x017F;ter? Beim Himmel und der Erde &#x017F;chwöre<lb/>
ich dir, was ich thun kann, deine Söhne zu retten, will<lb/>
ich gerne thun.&#x201C; &#x201E;Nun,&#x201C; fuhr die Schwe&#x017F;ter fort, &#x201E;&#x017F;o<lb/>
wir&#x017F;t du auch dem Fremdling um meiner Kinder willen<lb/>
irgend einen Trug an die Hand geben, jenen furchtbaren<lb/>
Kampf glücklich zu be&#x017F;tehen, denn von ihm ge&#x017F;endet, fleht<lb/>
mein Sohn Argos mich an, dem Ga&#x017F;tfreunde deine Hülfe<lb/>
zu erbitten.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Das Herz hüpfte der Jungfrau vor Freuden im<lb/>
Leibe, als &#x017F;ie die&#x017F;es hörte, ihr &#x017F;chönes Ange&#x017F;icht erröthete,<lb/>
ihr funkelndes Auge umhüllte einen Augenblick der Schwin¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0156] Medea verſpricht den Argonauten Hülfe. Die Jungfrau erröthete bei dieſen Fragen ihrer Schweſter, und Schaam verhinderte ſie, zu antworten: bald ſchwebte ihr die Rede zu äußerſt auf der Zunge, bald floh ſie in die tiefſte Bruſt zurück. Endlich machte ſie die Liebe kühn, und ſie ſprach mit verſchlagenen Wor¬ ten: „Chalciope, mein Herz iſt betrübt um deine Söhne, es möchte ſie der Vater mit den fremden Männern auf der Stelle tödten. Solches verkündet mir ein ſchwerer Traum, möge ein Gott ihm die Erfüllung verweigern.“ Unerträgliche Angſt bemächtigte ſich der Schweſter: „Eben deswegen komme ich zu dir,“ ſprach ſie, „und beſchwöre dich, mir gegen unſern Vater beizuſtehen. Weigerſt du dich, ſo werde ich mit meinen ermordeten Söhnen dich noch vom Orkus aus als Furie umſchweben!“ Sie um¬ faßte mit beiden Händen Medeens Knie und warf das Haupt in ihren Schooß; beide Schweſtern weinten bit¬ terlich. Dann ſprach Medea: „Was redeſt du von Fu¬ rien, Schweſter? Beim Himmel und der Erde ſchwöre ich dir, was ich thun kann, deine Söhne zu retten, will ich gerne thun.“ „Nun,“ fuhr die Schweſter fort, „ſo wirſt du auch dem Fremdling um meiner Kinder willen irgend einen Trug an die Hand geben, jenen furchtbaren Kampf glücklich zu beſtehen, denn von ihm geſendet, fleht mein Sohn Argos mich an, dem Gaſtfreunde deine Hülfe zu erbitten.“ Das Herz hüpfte der Jungfrau vor Freuden im Leibe, als ſie dieſes hörte, ihr ſchönes Angeſicht erröthete, ihr funkelndes Auge umhüllte einen Augenblick der Schwin¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/156
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/156>, abgerufen am 17.11.2024.