Unser versteckter Poet, dessen Aeußerungen mit den Ansichten und den Neigungen des gewöhnlichen sinn- lichen Lebens in einem beständigen ironischen Wider- spruch stehen, zeigt sich hierinnen einem anderen dunk- len Gebiet der menschlichen Natur -- dem Gewissen -- nahe verwandt. Die oberflächliche Ansicht des jetzt untergegangenen und untergehenden Menschenalters, hat auch diese dunkle Anlage im Menschen, mit der sie sich auf jede Weise im Widerspruch fühlte, so viel sie nur vermochte, verkannt und hinweggeläugnet. Selbst nach einem übrigens ernsten System der Moral, wird dem Menschen erst durch Erziehung gelehrt, was recht sey oder unrecht, und ihm die Furcht vor der Gottheit eingeprägt. Jene anerzogene Furcht sey das was wir Gewissen nennen, und der Mensch werde demnach erst dazu abgerichtet, eins zu haben.
Allerdings läßt sich das Gewissen darinnen mit dem sinnlichen Gefühl des Wohlseyns oder des Uebel- befindens vergleichen, daß es, wie dieses, einer Ver- feinerung oder Abstumpfung fähig ist. Denn so, wie erst der, welcher schon einen höheren Grad des mora- lischen Wohlseyns genossen, für jedes leise Uebelbefin- den empfindlich wird, während der, welcher nie das Gefühl einer kräftigen Gesundheit empfunden, oder welcher sich allmählig aus Krankseyn gewöhnte, zuletzt seinen kränklichen Zustand für Gesundheit hält; so macht uns auch erst ein öfterer Genuß des moralischen Wohlseyns für jedes entgegengesetzte Gefühl empfind- lich. Wir treten in das Leben, nicht als Gesunde, sondern als solche ein, welche hier genesen können
und
4. Der verſteckte Poet.
Unſer verſteckter Poet, deſſen Aeußerungen mit den Anſichten und den Neigungen des gewoͤhnlichen ſinn- lichen Lebens in einem beſtaͤndigen ironiſchen Wider- ſpruch ſtehen, zeigt ſich hierinnen einem anderen dunk- len Gebiet der menſchlichen Natur — dem Gewiſſen — nahe verwandt. Die oberflaͤchliche Anſicht des jetzt untergegangenen und untergehenden Menſchenalters, hat auch dieſe dunkle Anlage im Menſchen, mit der ſie ſich auf jede Weiſe im Widerſpruch fuͤhlte, ſo viel ſie nur vermochte, verkannt und hinweggelaͤugnet. Selbſt nach einem uͤbrigens ernſten Syſtem der Moral, wird dem Menſchen erſt durch Erziehung gelehrt, was recht ſey oder unrecht, und ihm die Furcht vor der Gottheit eingepraͤgt. Jene anerzogene Furcht ſey das was wir Gewiſſen nennen, und der Menſch werde demnach erſt dazu abgerichtet, eins zu haben.
Allerdings laͤßt ſich das Gewiſſen darinnen mit dem ſinnlichen Gefuͤhl des Wohlſeyns oder des Uebel- befindens vergleichen, daß es, wie dieſes, einer Ver- feinerung oder Abſtumpfung faͤhig iſt. Denn ſo, wie erſt der, welcher ſchon einen hoͤheren Grad des mora- liſchen Wohlſeyns genoſſen, fuͤr jedes leiſe Uebelbefin- den empfindlich wird, waͤhrend der, welcher nie das Gefuͤhl einer kraͤftigen Geſundheit empfunden, oder welcher ſich allmaͤhlig aus Krankſeyn gewoͤhnte, zuletzt ſeinen kraͤnklichen Zuſtand fuͤr Geſundheit haͤlt; ſo macht uns auch erſt ein oͤfterer Genuß des moraliſchen Wohlſeyns fuͤr jedes entgegengeſetzte Gefuͤhl empfind- lich. Wir treten in das Leben, nicht als Geſunde, ſondern als ſolche ein, welche hier geneſen koͤnnen
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4. Der verſteckte Poet.
Unſer verſteckter Poet, deſſen Aeußerungen mit den
Anſichten und den Neigungen des gewoͤhnlichen ſinn-
lichen Lebens in einem beſtaͤndigen ironiſchen Wider-
ſpruch ſtehen, zeigt ſich hierinnen einem anderen dunk-
len Gebiet der menſchlichen Natur — dem Gewiſſen
— nahe verwandt. Die oberflaͤchliche Anſicht des jetzt
untergegangenen und untergehenden Menſchenalters, hat
auch dieſe dunkle Anlage im Menſchen, mit der ſie ſich
auf jede Weiſe im Widerſpruch fuͤhlte, ſo viel ſie nur
vermochte, verkannt und hinweggelaͤugnet. Selbſt
nach einem uͤbrigens ernſten Syſtem der Moral, wird
dem Menſchen erſt durch Erziehung gelehrt, was
recht ſey oder unrecht, und ihm die Furcht vor der
Gottheit eingepraͤgt. Jene anerzogene Furcht ſey das
was wir Gewiſſen nennen, und der Menſch werde
demnach erſt dazu abgerichtet, eins zu haben.
Allerdings laͤßt ſich das Gewiſſen darinnen mit
dem ſinnlichen Gefuͤhl des Wohlſeyns oder des Uebel-
befindens vergleichen, daß es, wie dieſes, einer Ver-
feinerung oder Abſtumpfung faͤhig iſt. Denn ſo, wie
erſt der, welcher ſchon einen hoͤheren Grad des mora-
liſchen Wohlſeyns genoſſen, fuͤr jedes leiſe Uebelbefin-
den empfindlich wird, waͤhrend der, welcher nie das
Gefuͤhl einer kraͤftigen Geſundheit empfunden, oder
welcher ſich allmaͤhlig aus Krankſeyn gewoͤhnte, zuletzt
ſeinen kraͤnklichen Zuſtand fuͤr Geſundheit haͤlt; ſo
macht uns auch erſt ein oͤfterer Genuß des moraliſchen
Wohlſeyns fuͤr jedes entgegengeſetzte Gefuͤhl empfind-
lich. Wir treten in das Leben, nicht als Geſunde,
ſondern als ſolche ein, welche hier geneſen koͤnnen
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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/66>, abgerufen am 22.02.2025.
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