Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schönaich, Christoph Otto von: Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch. [Breslau], 1754.

Bild:
<< vorherige Seite
We

Der Schlund dieser Länge zeiget das Feine des
Witzes an, der ihn erfunden.

Wegfallen.

Man irret, wenn man glaubet, daß
dieß wegfallen heiße; es heißt vergessen.

"Jm zehnten Gesange beym 545 Verse
"sind folgende Zeilen weggefallen." Noah,
413 S.

Wir schlugen nach; wir glaubten, sie
sollten wegbleiben; aber siehe! wir irrten uns,
und sie sollten eingeschaltet werden. Da siehet man,
daß man mit den deutlichsten Worten oft undeutlich
werden kann. Wörter sind Zeichen der Gedan-
ken; das ist wahr! Wenn aber meine Gedanken
nun anarchisch sind: können wohl ihre Zeichen
diese Anarchie verläugnen? Z. E. Wenn ich sagte:
Bodmern ist die gesunde Vernunft in der Dicht-
kunst weggefallen: würde das nicht durch halb
Deutschland
heißen, sie sehlet ihm? Jn der
Schweiz hingegen: sie ist ihm einzuschalten.
So wahr beydes in einem gewissen Verstande nun
seyn kann: so viel durchnebelter bild- und wort-
reicher Witz
ist ihm dagegen zugefallen, daß er
der gesunden Vernunft gar wohl entübrigt seyn
kann. Denn wird nicht jeder lieber witzig, als
vernünftig seyn wollen? Rath Bodmer hat da-
her, mit Hülfe seines Pinsels, die alte und neue
Dichtkunst dermaßen vertuschet, daß man jene vor
dieser nicht siehet.

Wegschrecken einen,

oder wegscheuchen. Wir
denken hierbey an einen Popanz, mit dem man
die Kinder jaget. Se. Gn. brauchen ihn, die
Armuth zu verjagen.

"Die
F f
We

Der Schlund dieſer Laͤnge zeiget das Feine des
Witzes an, der ihn erfunden.

Wegfallen.

Man irret, wenn man glaubet, daß
dieß wegfallen heiße; es heißt vergeſſen.

Jm zehnten Geſange beym 545 Verſe
“ſind folgende Zeilen weggefallen.” Noah,
413 S.

Wir ſchlugen nach; wir glaubten, ſie
ſollten wegbleiben; aber ſiehe! wir irrten uns,
und ſie ſollten eingeſchaltet werden. Da ſiehet man,
daß man mit den deutlichſten Worten oft undeutlich
werden kann. Woͤrter ſind Zeichen der Gedan-
ken; das iſt wahr! Wenn aber meine Gedanken
nun anarchiſch ſind: koͤnnen wohl ihre Zeichen
dieſe Anarchie verlaͤugnen? Z. E. Wenn ich ſagte:
Bodmern iſt die geſunde Vernunft in der Dicht-
kunſt weggefallen: wuͤrde das nicht durch halb
Deutſchland
heißen, ſie ſehlet ihm? Jn der
Schweiz hingegen: ſie iſt ihm einzuſchalten.
So wahr beydes in einem gewiſſen Verſtande nun
ſeyn kann: ſo viel durchnebelter bild- und wort-
reicher Witz
iſt ihm dagegen zugefallen, daß er
der geſunden Vernunft gar wohl entuͤbrigt ſeyn
kann. Denn wird nicht jeder lieber witzig, als
vernuͤnftig ſeyn wollen? Rath Bodmer hat da-
her, mit Huͤlfe ſeines Pinſels, die alte und neue
Dichtkunſt dermaßen vertuſchet, daß man jene vor
dieſer nicht ſiehet.

Wegſchrecken einen,

oder wegſcheuchen. Wir
denken hierbey an einen Popanz, mit dem man
die Kinder jaget. Se. Gn. brauchen ihn, die
Armuth zu verjagen.

“Die
F f
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0475" n="449"/>
            <fw place="top" type="header">We</fw><lb/>
            <p>Der <hi rendition="#fr">Schlund</hi> die&#x017F;er <hi rendition="#fr">La&#x0364;nge</hi> zeiget das Feine des<lb/>
Witzes an, der ihn erfunden.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>Wegfallen.</head>
            <p>Man irret, wenn man glaubet, daß<lb/>
dieß <hi rendition="#fr">wegfallen</hi> heiße; es heißt <hi rendition="#fr">verge&#x017F;&#x017F;en.</hi></p><lb/>
            <cit>
              <quote>&#x201C;<hi rendition="#fr">Jm zehnten Ge&#x017F;ange beym 545 Ver&#x017F;e</hi><lb/>
&#x201C;&#x017F;ind folgende Zeilen <hi rendition="#fr">weggefallen.&#x201D; Noah,<lb/>
413 S.</hi></quote>
              <bibl/>
            </cit>
            <p>Wir &#x017F;chlugen nach; wir glaubten, &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ollten <hi rendition="#fr">wegbleiben;</hi> aber &#x017F;iehe! wir irrten uns,<lb/>
und &#x017F;ie &#x017F;ollten <hi rendition="#fr">einge&#x017F;chaltet</hi> werden. Da &#x017F;iehet man,<lb/>
daß man mit den deutlich&#x017F;ten Worten oft undeutlich<lb/>
werden kann. Wo&#x0364;rter &#x017F;ind Zeichen der Gedan-<lb/>
ken; das i&#x017F;t wahr! Wenn aber meine Gedanken<lb/>
nun <hi rendition="#fr">anarchi&#x017F;ch</hi> &#x017F;ind: ko&#x0364;nnen wohl ihre Zeichen<lb/>
die&#x017F;e <hi rendition="#fr">Anarchie</hi> verla&#x0364;ugnen? Z. E. Wenn ich &#x017F;agte:<lb/><hi rendition="#fr">Bodmern</hi> i&#x017F;t die ge&#x017F;unde Vernunft in der Dicht-<lb/>
kun&#x017F;t <hi rendition="#fr">weggefallen:</hi> wu&#x0364;rde das nicht durch <hi rendition="#fr">halb<lb/>
Deut&#x017F;chland</hi> heißen, <hi rendition="#fr">&#x017F;ie &#x017F;ehlet ihm?</hi> Jn der<lb/><hi rendition="#fr">Schweiz</hi> hingegen: <hi rendition="#fr">&#x017F;ie i&#x017F;t ihm einzu&#x017F;chalten.</hi><lb/>
So wahr beydes in einem gewi&#x017F;&#x017F;en Ver&#x017F;tande nun<lb/>
&#x017F;eyn kann: &#x017F;o viel <hi rendition="#fr">durchnebelter bild- und wort-<lb/>
reicher Witz</hi> i&#x017F;t ihm dagegen <hi rendition="#fr">zugefallen,</hi> daß er<lb/>
der ge&#x017F;unden Vernunft gar wohl entu&#x0364;brigt &#x017F;eyn<lb/>
kann. Denn wird nicht jeder lieber witzig, als<lb/>
vernu&#x0364;nftig &#x017F;eyn wollen? <hi rendition="#fr">Rath Bodmer</hi> hat da-<lb/>
her, mit Hu&#x0364;lfe &#x017F;eines Pin&#x017F;els, die alte und neue<lb/>
Dichtkun&#x017F;t dermaßen <hi rendition="#fr">vertu&#x017F;chet,</hi> daß man jene vor<lb/>
die&#x017F;er nicht &#x017F;iehet.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>Weg&#x017F;chrecken einen,</head>
            <p>oder <hi rendition="#fr">weg&#x017F;cheuchen.</hi> Wir<lb/>
denken hierbey an einen <hi rendition="#fr">Popanz,</hi> mit dem man<lb/>
die Kinder jaget. <hi rendition="#fr">Se. Gn.</hi> brauchen ihn, <hi rendition="#fr">die<lb/>
Armuth zu verjagen.</hi></p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">F f</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">&#x201C;Die</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[449/0475] We Der Schlund dieſer Laͤnge zeiget das Feine des Witzes an, der ihn erfunden. Wegfallen. Man irret, wenn man glaubet, daß dieß wegfallen heiße; es heißt vergeſſen. “Jm zehnten Geſange beym 545 Verſe “ſind folgende Zeilen weggefallen.” Noah, 413 S. Wir ſchlugen nach; wir glaubten, ſie ſollten wegbleiben; aber ſiehe! wir irrten uns, und ſie ſollten eingeſchaltet werden. Da ſiehet man, daß man mit den deutlichſten Worten oft undeutlich werden kann. Woͤrter ſind Zeichen der Gedan- ken; das iſt wahr! Wenn aber meine Gedanken nun anarchiſch ſind: koͤnnen wohl ihre Zeichen dieſe Anarchie verlaͤugnen? Z. E. Wenn ich ſagte: Bodmern iſt die geſunde Vernunft in der Dicht- kunſt weggefallen: wuͤrde das nicht durch halb Deutſchland heißen, ſie ſehlet ihm? Jn der Schweiz hingegen: ſie iſt ihm einzuſchalten. So wahr beydes in einem gewiſſen Verſtande nun ſeyn kann: ſo viel durchnebelter bild- und wort- reicher Witz iſt ihm dagegen zugefallen, daß er der geſunden Vernunft gar wohl entuͤbrigt ſeyn kann. Denn wird nicht jeder lieber witzig, als vernuͤnftig ſeyn wollen? Rath Bodmer hat da- her, mit Huͤlfe ſeines Pinſels, die alte und neue Dichtkunſt dermaßen vertuſchet, daß man jene vor dieſer nicht ſiehet. Wegſchrecken einen, oder wegſcheuchen. Wir denken hierbey an einen Popanz, mit dem man die Kinder jaget. Se. Gn. brauchen ihn, die Armuth zu verjagen. “Die F f

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schoenaich_aesthetik_1754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schoenaich_aesthetik_1754/475
Zitationshilfe: Schönaich, Christoph Otto von: Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch. [Breslau], 1754, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoenaich_aesthetik_1754/475>, abgerufen am 21.11.2024.