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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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den Staat für nahezu überflüssig, jeden Staatsmann für einen schlech-
ten Kerl erklärte, die Beseitigung aller mittelalterlichen Einrichtun-
gen auf ihre Fahne schrieb. Es waren große praktische Reformbedürf-
nisse, denen diese Theorie ebenso diente, wie einstens die merkan-
tilistische und wie neuerdings die sozialistische.

Diese baut sich auf einer materialistischen Überschätzung der äußeren
Güter und des äußerlichen Glückes, auf der Negation einer jen eitigen
Welt, auf der Verkennung des innersten Wesens der menschlichen
Natur auf. Aber sie kommt großen praktischen Bedürfnissen der Zeit,
dem Zuge nach demokratischer Gestaltung, nach Gleichheit, nach tech-
nischem Fortschritt, nach staatlicher Zentralisation entgegen. Die so-
zialistische Weltanschauung hat manche Elemente mit der Aufklärung
gemein -- so den politischen Radikalismus, die Verherrlichung der Re-
publik, die Absicht, nach logischen Kategorien die Gesellschaftswelt
einzurenken -- andere mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts --
ihre Geschichtsphilosophie ist Hegel und Feuerbach entnommen. Ihre
ganze Nationalökonomie ist den einseitigen Abstraktionen Ricardos ent-
lehnt. Ihr Ideal ist die Beseitigung der Vermögens- und Einkommens-
ungleichheit, die Aufhebung jeder Klassenherrschaft, womöglich aller
Klassengegensätze; die Hebung und Förderung der arbeitenden Klassen
ist das berechtigte Ziel, dem sie dient; sie hat auf diesem Wege schon
Großes erreicht. Ihre Lehren stellen einen natürlichen Rückschlag
gegen die Ein eitigkeit der Naturlehre der freien Konkurrenz dar; sie
dienen den Interessen des dritten Standes, wie jene dem Mittelstande
förderlich waren. Im ganzen sind sie aber nicht minder einseitig, ha-
ben zwar viele Untersuchungen angeregt, stehen in ihrem Kern aber
einer tieferen Erkenntnis mindestens so fern, als die ihnen voraus-
gegangenen Manchesterleute. Ja man könnte sagen, methodologisch
übertrieben sie die rationalistischen Irrtümer dieser.

Aber auch die weniger extremen Theorien und Systeme der Volkswirt-
schaftslehre und Sozialpolitik der Gegenwart sind stets bis auf einen
gewissen Grad, soweit sie zu einer geschlossenen Einheit gelangen und
von ihr aus Ideale für die Zukunft aufstellen, notwendig von einer
bestimmten Weltanschauung, von einem individuellen Bilde der Welt-
und Geschichtsentwickelung aus entworfen. Nur wer über die großen
Institutionen des Staates, des Privatrechts, der wirtschaftlichen Orga-
nisation sich ein konkretes Entwickelungsbild im ganzen macht, kann
sagen, wohin die Zukunft treiben werde und solle. Und dieses Bild
bleibt in gewissem Sinne ein subjektives, jedenfalls durch konstruk-
tive Phantasievorstellungen ergänztes, meist auf teleologischen Be-
trachtungen beruhendes. Mögen die einzelnen Theoretiker dabei noch
so hoch stehen, mögen sie sich frei wissen von allen Klassen- und
Parteiinteressen, welche ebenfalls ihre eigenen nationalökonomischen

den Staat für nahezu überflüssig, jeden Staatsmann für einen schlech-
ten Kerl erklärte, die Beseitigung aller mittelalterlichen Einrichtun-
gen auf ihre Fahne schrieb. Es waren große praktische Reformbedürf-
nisse, denen diese Theorie ebenso diente, wie einstens die merkan-
tilistische und wie neuerdings die sozialistische.

Diese baut sich auf einer materialistischen Überschätzung der äußeren
Güter und des äußerlichen Glückes, auf der Negation einer jen eitigen
Welt, auf der Verkennung des innersten Wesens der menschlichen
Natur auf. Aber sie kommt großen praktischen Bedürfnissen der Zeit,
dem Zuge nach demokratischer Gestaltung, nach Gleichheit, nach tech-
nischem Fortschritt, nach staatlicher Zentralisation entgegen. Die so-
zialistische Weltanschauung hat manche Elemente mit der Aufklärung
gemein — so den politischen Radikalismus, die Verherrlichung der Re-
publik, die Absicht, nach logischen Kategorien die Gesellschaftswelt
einzurenken — andere mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts —
ihre Geschichtsphilosophie ist Hegel und Feuerbach entnommen. Ihre
ganze Nationalökonomie ist den einseitigen Abstraktionen Ricardos ent-
lehnt. Ihr Ideal ist die Beseitigung der Vermögens- und Einkommens-
ungleichheit, die Aufhebung jeder Klassenherrschaft, womöglich aller
Klassengegensätze; die Hebung und Förderung der arbeitenden Klassen
ist das berechtigte Ziel, dem sie dient; sie hat auf diesem Wege schon
Großes erreicht. Ihre Lehren stellen einen natürlichen Rückschlag
gegen die Ein eitigkeit der Naturlehre der freien Konkurrenz dar; sie
dienen den Interessen des dritten Standes, wie jene dem Mittelstande
förderlich waren. Im ganzen sind sie aber nicht minder einseitig, ha-
ben zwar viele Untersuchungen angeregt, stehen in ihrem Kern aber
einer tieferen Erkenntnis mindestens so fern, als die ihnen voraus-
gegangenen Manchesterleute. Ja man könnte sagen, methodologisch
übertrieben sie die rationalistischen Irrtümer dieser.

Aber auch die weniger extremen Theorien und Systeme der Volkswirt-
schaftslehre und Sozialpolitik der Gegenwart sind stets bis auf einen
gewissen Grad, soweit sie zu einer geschlossenen Einheit gelangen und
von ihr aus Ideale für die Zukunft aufstellen, notwendig von einer
bestimmten Weltanschauung, von einem individuellen Bilde der Welt-
und Geschichtsentwickelung aus entworfen. Nur wer über die großen
Institutionen des Staates, des Privatrechts, der wirtschaftlichen Orga-
nisation sich ein konkretes Entwickelungsbild im ganzen macht, kann
sagen, wohin die Zukunft treiben werde und solle. Und dieses Bild
bleibt in gewissem Sinne ein subjektives, jedenfalls durch konstruk-
tive Phantasievorstellungen ergänztes, meist auf teleologischen Be-
trachtungen beruhendes. Mögen die einzelnen Theoretiker dabei noch
so hoch stehen, mögen sie sich frei wissen von allen Klassen- und
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[28/0032] den Staat für nahezu überflüssig, jeden Staatsmann für einen schlech- ten Kerl erklärte, die Beseitigung aller mittelalterlichen Einrichtun- gen auf ihre Fahne schrieb. Es waren große praktische Reformbedürf- nisse, denen diese Theorie ebenso diente, wie einstens die merkan- tilistische und wie neuerdings die sozialistische. Diese baut sich auf einer materialistischen Überschätzung der äußeren Güter und des äußerlichen Glückes, auf der Negation einer jen eitigen Welt, auf der Verkennung des innersten Wesens der menschlichen Natur auf. Aber sie kommt großen praktischen Bedürfnissen der Zeit, dem Zuge nach demokratischer Gestaltung, nach Gleichheit, nach tech- nischem Fortschritt, nach staatlicher Zentralisation entgegen. Die so- zialistische Weltanschauung hat manche Elemente mit der Aufklärung gemein — so den politischen Radikalismus, die Verherrlichung der Re- publik, die Absicht, nach logischen Kategorien die Gesellschaftswelt einzurenken — andere mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts — ihre Geschichtsphilosophie ist Hegel und Feuerbach entnommen. Ihre ganze Nationalökonomie ist den einseitigen Abstraktionen Ricardos ent- lehnt. Ihr Ideal ist die Beseitigung der Vermögens- und Einkommens- ungleichheit, die Aufhebung jeder Klassenherrschaft, womöglich aller Klassengegensätze; die Hebung und Förderung der arbeitenden Klassen ist das berechtigte Ziel, dem sie dient; sie hat auf diesem Wege schon Großes erreicht. Ihre Lehren stellen einen natürlichen Rückschlag gegen die Ein eitigkeit der Naturlehre der freien Konkurrenz dar; sie dienen den Interessen des dritten Standes, wie jene dem Mittelstande förderlich waren. Im ganzen sind sie aber nicht minder einseitig, ha- ben zwar viele Untersuchungen angeregt, stehen in ihrem Kern aber einer tieferen Erkenntnis mindestens so fern, als die ihnen voraus- gegangenen Manchesterleute. Ja man könnte sagen, methodologisch übertrieben sie die rationalistischen Irrtümer dieser. Aber auch die weniger extremen Theorien und Systeme der Volkswirt- schaftslehre und Sozialpolitik der Gegenwart sind stets bis auf einen gewissen Grad, soweit sie zu einer geschlossenen Einheit gelangen und von ihr aus Ideale für die Zukunft aufstellen, notwendig von einer bestimmten Weltanschauung, von einem individuellen Bilde der Welt- und Geschichtsentwickelung aus entworfen. Nur wer über die großen Institutionen des Staates, des Privatrechts, der wirtschaftlichen Orga- nisation sich ein konkretes Entwickelungsbild im ganzen macht, kann sagen, wohin die Zukunft treiben werde und solle. Und dieses Bild bleibt in gewissem Sinne ein subjektives, jedenfalls durch konstruk- tive Phantasievorstellungen ergänztes, meist auf teleologischen Be- trachtungen beruhendes. Mögen die einzelnen Theoretiker dabei noch so hoch stehen, mögen sie sich frei wissen von allen Klassen- und Parteiinteressen, welche ebenfalls ihre eigenen nationalökonomischen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/32>, abgerufen am 26.04.2024.