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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
die Detailhändler der betreffenden Waren sinken leicht zu Agenten oder Kommissionären
oder gar zu Beamten der Kartelle herab.

Das Urteil über diese neue centralistische Ordnung großer Gebiete der Produktion
schwankt naturgemäß: die einen sehen darin nur einen Rückfall in alte Mißbräuche und
Monopole, rufen nach Polizei und verbietenden Gesetzen; sie klagen, daß die Konkurrenz
und die Gewerbefreiheit mit ihnen verschwände, daß sie die Preise und die Gewinne
unmäßig erhöhten, das Publikum schamlos ausbeuteten, einen steigenden Druck auf die
Arbeiter ausübten. Die alten Freihändler, der kleinbürgerliche Radikalismus urteilen
so; die Socialisten, die Socialreformer, teilweise auch konservative Politiker, vollends
die Vertreter des großen Kapitals sehen auch die günstigen Seiten und vielfach nur
diese. Als solche erscheinen die großen technischen, Verkehrs- und Organisationsfortschritte,
welche die genialen Leiter vieler Kartelle herbeigeführt haben; manche derselben sind
freilich zugleich die geriebensten Geldmacher, ja kaufmännischen Spitzbuben. Daß Miß-
bräuche im großen Maßstabe sich an einzelne Kartelle knüpfen, Preßkorruption, unlautere
Spekulation, Börsentreibereien, Ausbeutung des Publikums durch das Monopol, wird
sich nicht leugnen lassen. Die Verteidiger der Kartelle betonen aber vor allem, daß die
Preise durch die Kartelle teilweise ermäßigt, keineswegs allgemein erhöht wurden, daß
jedenfalls die großen Schwankungen in Produktion und Absatz durch sie sehr ermäßigt
worden seien. Das ist ihr weitaus wichtigster Vorzug.

Im ganzen wird man sagen können, sie seien so segensreich oder so unheilvoll,
wie die Leiter maßvoll und staatsmännisch oder kurzsichtig und habsüchtig sind. Die
Kartelle sind eine Erscheinung, die mit Notwendigkeit aus derselben Tendenz erwuchs,
welche den maschinellen Großbetrieb, den heutigen Verkehr, die Kreditentwickelung und
Spekulation schuf. Die Großbetriebe mit ihren festen Anlagen auf Jahre, mit ihrer
notwendigen Spekulation auf die Zukunft mußten, durch gegenseitige übermäßige Kon-
kurrenz gepeinigt, durch den Wechsel der Nachfrage und die Krisen bedroht, auf den
Ausweg der Kartellierung kommen, gerade wo große kaufmännische und organisatorische
Talente an der Spitze standen. Die Kartelle wiederholen nur, was immer in ähn-
lichen Fällen früher geschah, was auch heute auf der Börse und sonst mit mehr Ver-
heimlichung und weniger Berechtigung vorkommt.

Es ist ein Entwickelungsprozeß, der unserer Zeit, ihren materiellen, wirtschaftlichen
Bedingungen, ihren organisatorischen Tendenzen entspricht. Er kann entarten zu gefähr-
lichen monopolistischen Mißbräuchen, zu wucherischer Riesenvermögensbildung für wenige.
Er kann aber auch in die rechten Wege gelenkt werden, wenn es beizeiten gelingt,
volle Öffentlichkeit in das Verfahren und in die Gewinnbildung zu bringen, und wenn
in die Leitung dieser centralistischen Organisationen mehr weitblickende und staats-
männische Patrioten als Geldmacher und neben den Kapitalvertretern solche der
Allgemeinheit, Vertreter des Staates, vielleicht später auch einmal der Arbeiter kommen,
wenn die Monopolgewinne zu einem entsprechenden Teil der Allgemeinheit zugeführt
werden. Die Organisation des deutschen Kalikartells mit den in demselben dem
preußischen Handelsminister vorbehaltenen weitgehenden Rechten ist ein Beispiel für
richtige Staatseinmischung. Auch die Verfassung der deutschen Reichsbank mit ihren
halb vom Staate berufenen, halb von den Anteilseignern gewählten Organen zeigt den
Weg, der zu gehen ist. Die Verfassung der zu einem Riesenbetrieb verschmolzenen
Pariser Omnibus- und Straßenbahngesellschaften zeigt, wie man Gemeinde und Staat
größere Vorteile als den Aktionären zuwenden kann. Es wird schwere Kämpfe geben,
bis diese Ziele erreicht sind; die bisherigen Anläufe einer die Kartelle beschränkenden
Gesetzgebung waren resultatlos, waren hölzerne Schüreisen. Nur große und starke, die
Zukunft richtig erkennende Regierungen werden im Bunde mit einer gesunden öffentlichen
Meinung, mit den besseren Kräften der Kartellleiter und der Geschäftswelt, sowie mit
den aufgeklärtesten Arbeiterführern das Ziel erreichen: die Kartelle nicht zu vernichten,
sondern sie aus den heute teilweise falschen Bahnen hinüber zu lenken in gesunde, so
daß sie als die richtigen Organe einer höheren Form der vergesellschafteten Volkswirt-
schaft, als die berufenen centralen Steuerungsorgane der Produktion gelten können.

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
die Detailhändler der betreffenden Waren ſinken leicht zu Agenten oder Kommiſſionären
oder gar zu Beamten der Kartelle herab.

Das Urteil über dieſe neue centraliſtiſche Ordnung großer Gebiete der Produktion
ſchwankt naturgemäß: die einen ſehen darin nur einen Rückfall in alte Mißbräuche und
Monopole, rufen nach Polizei und verbietenden Geſetzen; ſie klagen, daß die Konkurrenz
und die Gewerbefreiheit mit ihnen verſchwände, daß ſie die Preiſe und die Gewinne
unmäßig erhöhten, das Publikum ſchamlos ausbeuteten, einen ſteigenden Druck auf die
Arbeiter ausübten. Die alten Freihändler, der kleinbürgerliche Radikalismus urteilen
ſo; die Socialiſten, die Socialreformer, teilweiſe auch konſervative Politiker, vollends
die Vertreter des großen Kapitals ſehen auch die günſtigen Seiten und vielfach nur
dieſe. Als ſolche erſcheinen die großen techniſchen, Verkehrs- und Organiſationsfortſchritte,
welche die genialen Leiter vieler Kartelle herbeigeführt haben; manche derſelben ſind
freilich zugleich die geriebenſten Geldmacher, ja kaufmänniſchen Spitzbuben. Daß Miß-
bräuche im großen Maßſtabe ſich an einzelne Kartelle knüpfen, Preßkorruption, unlautere
Spekulation, Börſentreibereien, Ausbeutung des Publikums durch das Monopol, wird
ſich nicht leugnen laſſen. Die Verteidiger der Kartelle betonen aber vor allem, daß die
Preiſe durch die Kartelle teilweiſe ermäßigt, keineswegs allgemein erhöht wurden, daß
jedenfalls die großen Schwankungen in Produktion und Abſatz durch ſie ſehr ermäßigt
worden ſeien. Das iſt ihr weitaus wichtigſter Vorzug.

Im ganzen wird man ſagen können, ſie ſeien ſo ſegensreich oder ſo unheilvoll,
wie die Leiter maßvoll und ſtaatsmänniſch oder kurzſichtig und habſüchtig ſind. Die
Kartelle ſind eine Erſcheinung, die mit Notwendigkeit aus derſelben Tendenz erwuchs,
welche den maſchinellen Großbetrieb, den heutigen Verkehr, die Kreditentwickelung und
Spekulation ſchuf. Die Großbetriebe mit ihren feſten Anlagen auf Jahre, mit ihrer
notwendigen Spekulation auf die Zukunft mußten, durch gegenſeitige übermäßige Kon-
kurrenz gepeinigt, durch den Wechſel der Nachfrage und die Kriſen bedroht, auf den
Ausweg der Kartellierung kommen, gerade wo große kaufmänniſche und organiſatoriſche
Talente an der Spitze ſtanden. Die Kartelle wiederholen nur, was immer in ähn-
lichen Fällen früher geſchah, was auch heute auf der Börſe und ſonſt mit mehr Ver-
heimlichung und weniger Berechtigung vorkommt.

Es iſt ein Entwickelungsprozeß, der unſerer Zeit, ihren materiellen, wirtſchaftlichen
Bedingungen, ihren organiſatoriſchen Tendenzen entſpricht. Er kann entarten zu gefähr-
lichen monopoliſtiſchen Mißbräuchen, zu wucheriſcher Rieſenvermögensbildung für wenige.
Er kann aber auch in die rechten Wege gelenkt werden, wenn es beizeiten gelingt,
volle Öffentlichkeit in das Verfahren und in die Gewinnbildung zu bringen, und wenn
in die Leitung dieſer centraliſtiſchen Organiſationen mehr weitblickende und ſtaats-
männiſche Patrioten als Geldmacher und neben den Kapitalvertretern ſolche der
Allgemeinheit, Vertreter des Staates, vielleicht ſpäter auch einmal der Arbeiter kommen,
wenn die Monopolgewinne zu einem entſprechenden Teil der Allgemeinheit zugeführt
werden. Die Organiſation des deutſchen Kalikartells mit den in demſelben dem
preußiſchen Handelsminiſter vorbehaltenen weitgehenden Rechten iſt ein Beiſpiel für
richtige Staatseinmiſchung. Auch die Verfaſſung der deutſchen Reichsbank mit ihren
halb vom Staate berufenen, halb von den Anteilseignern gewählten Organen zeigt den
Weg, der zu gehen iſt. Die Verfaſſung der zu einem Rieſenbetrieb verſchmolzenen
Pariſer Omnibus- und Straßenbahngeſellſchaften zeigt, wie man Gemeinde und Staat
größere Vorteile als den Aktionären zuwenden kann. Es wird ſchwere Kämpfe geben,
bis dieſe Ziele erreicht ſind; die bisherigen Anläufe einer die Kartelle beſchränkenden
Geſetzgebung waren reſultatlos, waren hölzerne Schüreiſen. Nur große und ſtarke, die
Zukunft richtig erkennende Regierungen werden im Bunde mit einer geſunden öffentlichen
Meinung, mit den beſſeren Kräften der Kartellleiter und der Geſchäftswelt, ſowie mit
den aufgeklärteſten Arbeiterführern das Ziel erreichen: die Kartelle nicht zu vernichten,
ſondern ſie aus den heute teilweiſe falſchen Bahnen hinüber zu lenken in geſunde, ſo
daß ſie als die richtigen Organe einer höheren Form der vergeſellſchafteten Volkswirt-
ſchaft, als die berufenen centralen Steuerungsorgane der Produktion gelten können.

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[452/0468] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. die Detailhändler der betreffenden Waren ſinken leicht zu Agenten oder Kommiſſionären oder gar zu Beamten der Kartelle herab. Das Urteil über dieſe neue centraliſtiſche Ordnung großer Gebiete der Produktion ſchwankt naturgemäß: die einen ſehen darin nur einen Rückfall in alte Mißbräuche und Monopole, rufen nach Polizei und verbietenden Geſetzen; ſie klagen, daß die Konkurrenz und die Gewerbefreiheit mit ihnen verſchwände, daß ſie die Preiſe und die Gewinne unmäßig erhöhten, das Publikum ſchamlos ausbeuteten, einen ſteigenden Druck auf die Arbeiter ausübten. Die alten Freihändler, der kleinbürgerliche Radikalismus urteilen ſo; die Socialiſten, die Socialreformer, teilweiſe auch konſervative Politiker, vollends die Vertreter des großen Kapitals ſehen auch die günſtigen Seiten und vielfach nur dieſe. Als ſolche erſcheinen die großen techniſchen, Verkehrs- und Organiſationsfortſchritte, welche die genialen Leiter vieler Kartelle herbeigeführt haben; manche derſelben ſind freilich zugleich die geriebenſten Geldmacher, ja kaufmänniſchen Spitzbuben. Daß Miß- bräuche im großen Maßſtabe ſich an einzelne Kartelle knüpfen, Preßkorruption, unlautere Spekulation, Börſentreibereien, Ausbeutung des Publikums durch das Monopol, wird ſich nicht leugnen laſſen. Die Verteidiger der Kartelle betonen aber vor allem, daß die Preiſe durch die Kartelle teilweiſe ermäßigt, keineswegs allgemein erhöht wurden, daß jedenfalls die großen Schwankungen in Produktion und Abſatz durch ſie ſehr ermäßigt worden ſeien. Das iſt ihr weitaus wichtigſter Vorzug. Im ganzen wird man ſagen können, ſie ſeien ſo ſegensreich oder ſo unheilvoll, wie die Leiter maßvoll und ſtaatsmänniſch oder kurzſichtig und habſüchtig ſind. Die Kartelle ſind eine Erſcheinung, die mit Notwendigkeit aus derſelben Tendenz erwuchs, welche den maſchinellen Großbetrieb, den heutigen Verkehr, die Kreditentwickelung und Spekulation ſchuf. Die Großbetriebe mit ihren feſten Anlagen auf Jahre, mit ihrer notwendigen Spekulation auf die Zukunft mußten, durch gegenſeitige übermäßige Kon- kurrenz gepeinigt, durch den Wechſel der Nachfrage und die Kriſen bedroht, auf den Ausweg der Kartellierung kommen, gerade wo große kaufmänniſche und organiſatoriſche Talente an der Spitze ſtanden. Die Kartelle wiederholen nur, was immer in ähn- lichen Fällen früher geſchah, was auch heute auf der Börſe und ſonſt mit mehr Ver- heimlichung und weniger Berechtigung vorkommt. Es iſt ein Entwickelungsprozeß, der unſerer Zeit, ihren materiellen, wirtſchaftlichen Bedingungen, ihren organiſatoriſchen Tendenzen entſpricht. Er kann entarten zu gefähr- lichen monopoliſtiſchen Mißbräuchen, zu wucheriſcher Rieſenvermögensbildung für wenige. Er kann aber auch in die rechten Wege gelenkt werden, wenn es beizeiten gelingt, volle Öffentlichkeit in das Verfahren und in die Gewinnbildung zu bringen, und wenn in die Leitung dieſer centraliſtiſchen Organiſationen mehr weitblickende und ſtaats- männiſche Patrioten als Geldmacher und neben den Kapitalvertretern ſolche der Allgemeinheit, Vertreter des Staates, vielleicht ſpäter auch einmal der Arbeiter kommen, wenn die Monopolgewinne zu einem entſprechenden Teil der Allgemeinheit zugeführt werden. Die Organiſation des deutſchen Kalikartells mit den in demſelben dem preußiſchen Handelsminiſter vorbehaltenen weitgehenden Rechten iſt ein Beiſpiel für richtige Staatseinmiſchung. Auch die Verfaſſung der deutſchen Reichsbank mit ihren halb vom Staate berufenen, halb von den Anteilseignern gewählten Organen zeigt den Weg, der zu gehen iſt. Die Verfaſſung der zu einem Rieſenbetrieb verſchmolzenen Pariſer Omnibus- und Straßenbahngeſellſchaften zeigt, wie man Gemeinde und Staat größere Vorteile als den Aktionären zuwenden kann. Es wird ſchwere Kämpfe geben, bis dieſe Ziele erreicht ſind; die bisherigen Anläufe einer die Kartelle beſchränkenden Geſetzgebung waren reſultatlos, waren hölzerne Schüreiſen. Nur große und ſtarke, die Zukunft richtig erkennende Regierungen werden im Bunde mit einer geſunden öffentlichen Meinung, mit den beſſeren Kräften der Kartellleiter und der Geſchäftswelt, ſowie mit den aufgeklärteſten Arbeiterführern das Ziel erreichen: die Kartelle nicht zu vernichten, ſondern ſie aus den heute teilweiſe falſchen Bahnen hinüber zu lenken in geſunde, ſo daß ſie als die richtigen Organe einer höheren Form der vergeſellſchafteten Volkswirt- ſchaft, als die berufenen centralen Steuerungsorgane der Produktion gelten können.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/468>, abgerufen am 26.04.2024.