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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
ihrer Lasten in den Weistümern geschützt. Jedenfalls hat die grundherrliche Verfassung
nicht gehindert, daß der Bauernstand in Nordeuropa vom 9.--15. Jahrhundert an
Wohlstand zunahm, und daß auch vom 15.--18. trotz des zunehmenden Druckes der
Feudallasten der grundherrliche Adel in den meisten Gegenden des kontinentalen Europas
mehr zurückging als der Bauernstand, und daß die Ablösungsgesetze des 19. Jahrhunderts
das Obereigentum und die anderen Rechte der Grundherren auf feste Renten beschränkt,
in Ablösungsgelder oder Landabtretungen umgesetzt oder gar ohne Entschädigung auf-
gehoben haben. Dabei ging ein Teil der kleinen Stellenbesitzer mit schlechteren Rechten
leer aus; sie sanken zu Tagelöhnern und Instleuten herab. Ein sehr erheblicher Teil
der Bauern aber, in vielen Ländern der weitaus größere Teil, wurde, soweit dies nicht
vorher durch Einzelgeschäfte geschehen war, durch diese neuere Agrarpolitik zu vollen,
freien Eigentümern an ihren Hufen. So geschah es überwiegend in Frankreich, im
ganzen südlichen und westlichen Teile Deutschlands, in Belgien, Holland, der Schweiz,
in den skandinavischen Reichen, wo daher heute das kleine und mittlere freie Grund-
eigentum überwiegt.

Im Osten Deutschlands, in Österreich, in Rußland, hauptsächlich im südlichen,
fehlt es an gesundem bäuerlichem Besitze heute zwar keineswegs, aber es stehen daneben
doch auch zahlreiche große Güter; sie sind aus den Einrichtungen des Feudalwesens,
aus dem landwirtschaftlichen Selbstbetriebe der Ritter und aus den Bauernlegungen und
Bauernmißhandlungen hervorgegangen. Es wird auf ihnen heute Großgutswirtschaft
mit Tagelöhnern getrieben; ein erheblicher Teil ist verpachtet, wie die dem Staate
gebliebenen Domänen. Die großen auf diesen Gütern sitzenden Pächter repräsentieren
einen wohlhabenden Unternehmerstand, der zugleich der Hauptträger des landwirtschaft-
lichen Fortschrittes ist. In England hat hauptsächlich die unbedingte Verfügungsgewalt
des Grundherrn über Wald und Weide und die vom technisch-agrarischen Fortschritte
diktierte Durchführung der Feldgraswirtschaft, welche größere Güter forderte, zu den
Einhegungen der Allmende im grundherrlichen Interesse geführt, welche dem kleineren
Bauern seine wirtschaftliche Existenz unmöglich machten. Es giebt jetzt dort überwiegend
Großgrundbesitz in den Händen der alten und der neuen Aristokratie, von Geldzeitpächtern
unter Hülfe von Tagelöhnern bewirtschaftet. --

Die im vorstehenden geschilderte verschiedene Entwickelung der Grundeigentums-
verteilung vom Mittelalter bis in die neuere Zeit ist in ihrem Unterschiede nicht oder
nicht in der Hauptsache auf technische oder rein wirtschaftliche Ursachen, sondern haupt-
sächlich auf politische und verfassungsgeschichtliche zurückzuführen. Wo eine starke Monarchie
den Bauernstand schützte, hat im ganzen das mittlere und kleine Grundeigentum sich
erhalten; wo grund- und gutsherrliche Zustände zu einer überwiegenden politischen
Herrschaft des Adels im Parlamente, in der Staats- und Selbstverwaltung führten, da
hat sich das große Grundeigentum ausgebreitet. Dabei wirkten natürlich die persön-
lichen Eigenschaften der Bauern und des Adels mit; ein kräftiger, tüchtiger Bauernstand
erhielt sich länger und leichter, ein intelligenter, hochstehender, zu politischen und mili-
tärischen Leistungen befähigter Adel dehnte seinen Besitz energischer aus, verkümmerte
nicht so leicht wie ein unpolitischer, in Genußsucht versunkener, dem Landleben ent-
fremdeter; ein tüchtiger, dauernd zwischen seinen Bauern lebender Adel, wie der englische
und nordostdeutsche, wurde meist zugleich der Führer auf dem Gebiete des technisch-
wirtschaftlichen Fortschrittes; er hatte, wo er dies geworden, häufig auch mehr Neigung,
einen tiefstehenden Bauernstand auszukaufen, ihn zum Tagelöhnertume herabzudrücken.

So wenig es für die Zeit von 1300--1900 wahr wäre zu sagen, bloß die ver-
schiedene Grundbesitzverteilung habe die Klassenunterschiede der Gutsherren, Bauern und
Tagelöhner geschaffen, so wird das doch unzweifelhaft sein, daß die vorhandenen und
sich durch Generationen befestigenden Besitzunterschiede ein sehr wichtiges Moment für
die verschiedene Lebenshaltung, Bildung, Gesittung, Erziehung, für den politischen Einfluß
und die Einkommensverteilung sowie für die Ausbildung der Klassenunterschiede waren.
Aber nirgends wirkten der Besitzunterschied und seine rechtlichen Folgen allein, sondern
stets in Zusammenhang und Wechselwirkung mit anderen Faktoren.

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ihrer Laſten in den Weistümern geſchützt. Jedenfalls hat die grundherrliche Verfaſſung
nicht gehindert, daß der Bauernſtand in Nordeuropa vom 9.—15. Jahrhundert an
Wohlſtand zunahm, und daß auch vom 15.—18. trotz des zunehmenden Druckes der
Feudallaſten der grundherrliche Adel in den meiſten Gegenden des kontinentalen Europas
mehr zurückging als der Bauernſtand, und daß die Ablöſungsgeſetze des 19. Jahrhunderts
das Obereigentum und die anderen Rechte der Grundherren auf feſte Renten beſchränkt,
in Ablöſungsgelder oder Landabtretungen umgeſetzt oder gar ohne Entſchädigung auf-
gehoben haben. Dabei ging ein Teil der kleinen Stellenbeſitzer mit ſchlechteren Rechten
leer aus; ſie ſanken zu Tagelöhnern und Inſtleuten herab. Ein ſehr erheblicher Teil
der Bauern aber, in vielen Ländern der weitaus größere Teil, wurde, ſoweit dies nicht
vorher durch Einzelgeſchäfte geſchehen war, durch dieſe neuere Agrarpolitik zu vollen,
freien Eigentümern an ihren Hufen. So geſchah es überwiegend in Frankreich, im
ganzen ſüdlichen und weſtlichen Teile Deutſchlands, in Belgien, Holland, der Schweiz,
in den ſkandinaviſchen Reichen, wo daher heute das kleine und mittlere freie Grund-
eigentum überwiegt.

Im Oſten Deutſchlands, in Öſterreich, in Rußland, hauptſächlich im ſüdlichen,
fehlt es an geſundem bäuerlichem Beſitze heute zwar keineswegs, aber es ſtehen daneben
doch auch zahlreiche große Güter; ſie ſind aus den Einrichtungen des Feudalweſens,
aus dem landwirtſchaftlichen Selbſtbetriebe der Ritter und aus den Bauernlegungen und
Bauernmißhandlungen hervorgegangen. Es wird auf ihnen heute Großgutswirtſchaft
mit Tagelöhnern getrieben; ein erheblicher Teil iſt verpachtet, wie die dem Staate
gebliebenen Domänen. Die großen auf dieſen Gütern ſitzenden Pächter repräſentieren
einen wohlhabenden Unternehmerſtand, der zugleich der Hauptträger des landwirtſchaft-
lichen Fortſchrittes iſt. In England hat hauptſächlich die unbedingte Verfügungsgewalt
des Grundherrn über Wald und Weide und die vom techniſch-agrariſchen Fortſchritte
diktierte Durchführung der Feldgraswirtſchaft, welche größere Güter forderte, zu den
Einhegungen der Allmende im grundherrlichen Intereſſe geführt, welche dem kleineren
Bauern ſeine wirtſchaftliche Exiſtenz unmöglich machten. Es giebt jetzt dort überwiegend
Großgrundbeſitz in den Händen der alten und der neuen Ariſtokratie, von Geldzeitpächtern
unter Hülfe von Tagelöhnern bewirtſchaftet. —

Die im vorſtehenden geſchilderte verſchiedene Entwickelung der Grundeigentums-
verteilung vom Mittelalter bis in die neuere Zeit iſt in ihrem Unterſchiede nicht oder
nicht in der Hauptſache auf techniſche oder rein wirtſchaftliche Urſachen, ſondern haupt-
ſächlich auf politiſche und verfaſſungsgeſchichtliche zurückzuführen. Wo eine ſtarke Monarchie
den Bauernſtand ſchützte, hat im ganzen das mittlere und kleine Grundeigentum ſich
erhalten; wo grund- und gutsherrliche Zuſtände zu einer überwiegenden politiſchen
Herrſchaft des Adels im Parlamente, in der Staats- und Selbſtverwaltung führten, da
hat ſich das große Grundeigentum ausgebreitet. Dabei wirkten natürlich die perſön-
lichen Eigenſchaften der Bauern und des Adels mit; ein kräftiger, tüchtiger Bauernſtand
erhielt ſich länger und leichter, ein intelligenter, hochſtehender, zu politiſchen und mili-
täriſchen Leiſtungen befähigter Adel dehnte ſeinen Beſitz energiſcher aus, verkümmerte
nicht ſo leicht wie ein unpolitiſcher, in Genußſucht verſunkener, dem Landleben ent-
fremdeter; ein tüchtiger, dauernd zwiſchen ſeinen Bauern lebender Adel, wie der engliſche
und nordoſtdeutſche, wurde meiſt zugleich der Führer auf dem Gebiete des techniſch-
wirtſchaftlichen Fortſchrittes; er hatte, wo er dies geworden, häufig auch mehr Neigung,
einen tiefſtehenden Bauernſtand auszukaufen, ihn zum Tagelöhnertume herabzudrücken.

So wenig es für die Zeit von 1300—1900 wahr wäre zu ſagen, bloß die ver-
ſchiedene Grundbeſitzverteilung habe die Klaſſenunterſchiede der Gutsherren, Bauern und
Tagelöhner geſchaffen, ſo wird das doch unzweifelhaft ſein, daß die vorhandenen und
ſich durch Generationen befeſtigenden Beſitzunterſchiede ein ſehr wichtiges Moment für
die verſchiedene Lebenshaltung, Bildung, Geſittung, Erziehung, für den politiſchen Einfluß
und die Einkommensverteilung ſowie für die Ausbildung der Klaſſenunterſchiede waren.
Aber nirgends wirkten der Beſitzunterſchied und ſeine rechtlichen Folgen allein, ſondern
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[376/0392] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. ihrer Laſten in den Weistümern geſchützt. Jedenfalls hat die grundherrliche Verfaſſung nicht gehindert, daß der Bauernſtand in Nordeuropa vom 9.—15. Jahrhundert an Wohlſtand zunahm, und daß auch vom 15.—18. trotz des zunehmenden Druckes der Feudallaſten der grundherrliche Adel in den meiſten Gegenden des kontinentalen Europas mehr zurückging als der Bauernſtand, und daß die Ablöſungsgeſetze des 19. Jahrhunderts das Obereigentum und die anderen Rechte der Grundherren auf feſte Renten beſchränkt, in Ablöſungsgelder oder Landabtretungen umgeſetzt oder gar ohne Entſchädigung auf- gehoben haben. Dabei ging ein Teil der kleinen Stellenbeſitzer mit ſchlechteren Rechten leer aus; ſie ſanken zu Tagelöhnern und Inſtleuten herab. Ein ſehr erheblicher Teil der Bauern aber, in vielen Ländern der weitaus größere Teil, wurde, ſoweit dies nicht vorher durch Einzelgeſchäfte geſchehen war, durch dieſe neuere Agrarpolitik zu vollen, freien Eigentümern an ihren Hufen. So geſchah es überwiegend in Frankreich, im ganzen ſüdlichen und weſtlichen Teile Deutſchlands, in Belgien, Holland, der Schweiz, in den ſkandinaviſchen Reichen, wo daher heute das kleine und mittlere freie Grund- eigentum überwiegt. Im Oſten Deutſchlands, in Öſterreich, in Rußland, hauptſächlich im ſüdlichen, fehlt es an geſundem bäuerlichem Beſitze heute zwar keineswegs, aber es ſtehen daneben doch auch zahlreiche große Güter; ſie ſind aus den Einrichtungen des Feudalweſens, aus dem landwirtſchaftlichen Selbſtbetriebe der Ritter und aus den Bauernlegungen und Bauernmißhandlungen hervorgegangen. Es wird auf ihnen heute Großgutswirtſchaft mit Tagelöhnern getrieben; ein erheblicher Teil iſt verpachtet, wie die dem Staate gebliebenen Domänen. Die großen auf dieſen Gütern ſitzenden Pächter repräſentieren einen wohlhabenden Unternehmerſtand, der zugleich der Hauptträger des landwirtſchaft- lichen Fortſchrittes iſt. In England hat hauptſächlich die unbedingte Verfügungsgewalt des Grundherrn über Wald und Weide und die vom techniſch-agrariſchen Fortſchritte diktierte Durchführung der Feldgraswirtſchaft, welche größere Güter forderte, zu den Einhegungen der Allmende im grundherrlichen Intereſſe geführt, welche dem kleineren Bauern ſeine wirtſchaftliche Exiſtenz unmöglich machten. Es giebt jetzt dort überwiegend Großgrundbeſitz in den Händen der alten und der neuen Ariſtokratie, von Geldzeitpächtern unter Hülfe von Tagelöhnern bewirtſchaftet. — Die im vorſtehenden geſchilderte verſchiedene Entwickelung der Grundeigentums- verteilung vom Mittelalter bis in die neuere Zeit iſt in ihrem Unterſchiede nicht oder nicht in der Hauptſache auf techniſche oder rein wirtſchaftliche Urſachen, ſondern haupt- ſächlich auf politiſche und verfaſſungsgeſchichtliche zurückzuführen. Wo eine ſtarke Monarchie den Bauernſtand ſchützte, hat im ganzen das mittlere und kleine Grundeigentum ſich erhalten; wo grund- und gutsherrliche Zuſtände zu einer überwiegenden politiſchen Herrſchaft des Adels im Parlamente, in der Staats- und Selbſtverwaltung führten, da hat ſich das große Grundeigentum ausgebreitet. Dabei wirkten natürlich die perſön- lichen Eigenſchaften der Bauern und des Adels mit; ein kräftiger, tüchtiger Bauernſtand erhielt ſich länger und leichter, ein intelligenter, hochſtehender, zu politiſchen und mili- täriſchen Leiſtungen befähigter Adel dehnte ſeinen Beſitz energiſcher aus, verkümmerte nicht ſo leicht wie ein unpolitiſcher, in Genußſucht verſunkener, dem Landleben ent- fremdeter; ein tüchtiger, dauernd zwiſchen ſeinen Bauern lebender Adel, wie der engliſche und nordoſtdeutſche, wurde meiſt zugleich der Führer auf dem Gebiete des techniſch- wirtſchaftlichen Fortſchrittes; er hatte, wo er dies geworden, häufig auch mehr Neigung, einen tiefſtehenden Bauernſtand auszukaufen, ihn zum Tagelöhnertume herabzudrücken. So wenig es für die Zeit von 1300—1900 wahr wäre zu ſagen, bloß die ver- ſchiedene Grundbeſitzverteilung habe die Klaſſenunterſchiede der Gutsherren, Bauern und Tagelöhner geſchaffen, ſo wird das doch unzweifelhaft ſein, daß die vorhandenen und ſich durch Generationen befeſtigenden Beſitzunterſchiede ein ſehr wichtiges Moment für die verſchiedene Lebenshaltung, Bildung, Geſittung, Erziehung, für den politiſchen Einfluß und die Einkommensverteilung ſowie für die Ausbildung der Klaſſenunterſchiede waren. Aber nirgends wirkten der Beſitzunterſchied und ſeine rechtlichen Folgen allein, ſondern ſtets in Zuſammenhang und Wechſelwirkung mit anderen Faktoren.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/392>, abgerufen am 26.04.2024.