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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Komplizierung der menschlichen Motive durch die Arbeitsteilung.
stellung der Bedarfsdeckung wirken noch mit, aber müssen auf komplizierte Umwege sich
begeben; es muß sich ein vielgestaltiges Lock- und Zwangssystem ausbilden, wobei Lohn
und Gewinn, Ehre, Freude am technischen Erfolge, Furcht und Zwang zusammenwirken.
Alles individuelle Leben, seine Gestaltung, die ganze Lebensführung wird jetzt von dem
eingangs erwähnten Kompromiß von unveräußerlichen Eigenzwecken und gesellschaftlichen
Aufgaben und Pflichten, von Zwecken, die dem einzelnen zunächst nicht als die seinen
erscheinen, beherrscht; für solche thätig zu sein, ist schwer zu erlernen; der natürliche
Mensch sträubt sich dagegen, wenn er nicht viel gewinnt. Und wird ihm das gestattet,
so geht er leicht über die Grenze, mißhandelt die Schwächeren. Alle Moral, alle
Pflichtenlehre muß eine andere, kompliziertere werden; alle Erwerbs- und Gewinnarten
müssen erst in Recht und Sitte, im Gefühl und in der Moral ihre rechten Schranken
erhalten. Es ist vielleicht die größte moralisch-psychologische Aufgabe, vor die die
Menschheit so gestellt ist.

Alle socialen Institutionen, durch welche die Arbeitsteilung allein wirken kann,
sind abhängig von dem jeweiligen Stande dieses psychologisch-historischen Prozesses; nur
große geistige und moralische Fortschritte können ihn so gestalten, daß die Arbeitsteilung
als rein segensreich sich darstellt. Alle Institutionen der Gesellschaft müssen nun so
beschaffen sein, daß sie nicht bloß dem Bedürfnisse des Tages, dem heutigen Stande der
Arbeitsteilung entsprechen, sondern so, daß sie auch diesen psychologischen Umbildungs-
prozeß richtig fördern. Wie schwierig ist das! Wie leicht kann aus der fortschreitenden
Arbeitsteilung deshalb da und dort mehr Reibung und Kampf, mehr Verwirrung und
Druck als vollendete Vergesellschaftung entspringen. --

Fassen wir das über die Ursachen und Bedingungen der Arbeitsteilung Gesagte
nochmal zusammen, und vergleichen wir unsere Auffassung mit der älteren, so leiten wir
sie in erster Linie aus den geistigen und technischen Fortschritten ab, die mit dichterer
Bevölkerung in größeren Staaten unter dem harten Drucke des Daseinskampfes ent-
standen; wir begreifen sie als den elementar notwendigen gesellschaftlichen Anpassungs-
und Differenzierungsprozeß, der stets auf eine höhere Form der Vergesellschaftung hinzielt,
aber nur unter der Bedingung besserer Moral, vollendeterer gesellschaftlicher Organi-
sationen und Rechtsformen dies Ziel erreichen kann.

Die manchesterliche Nationalökonomie betrachtete von ihrem technologisch-indivi-
dualistischen Standpunkte aus die Arbeitsteilung als eine Art Wunderwerk, als eine
prästabilierte Harmonie, in die sich die selbständig und isoliert gedachten Individuen
unbewußt oder gelockt durch die Vorteile des Tauschverkehrs gleichsam willenlos einfügen.
Der Socialismus von Marx sah nur in der Despotie des Dorfpatriarchen, des Werkstatt-
vorstehers, des großen Fabrikanten eine vernünftige, weil von oben geleitete Arbeits-
teilung, in allen anderen Teilen derselben eine Anarchie, in der nur Zufall und Willkür
ihr Spiel treiben, und die Marktwerte vergeblich sich abmühen, das Gleichgewicht zwischen
den gesellschaftlichen Arbeitszweigen herzustellen. Während jene ältere manchesterliche Auf-
fassung unbedingte Freiheit und Willkür, diese jüngere socialistische von Marx centra-
listischen Despotismus für die Durchführung aller Arbeitsteilung verlangte, sind sie
beide das Produkt einer gänzlich unhistorischen, atomistischen und materialistischen
Gesellschaftsauffassung. Die Arbeitsteilung ist weder ein absolut harmonischer, noch ein
ganz anarchischer, sondern sie ist ein gesellschaftlicher Prozeß, der in der Einheit von
Sprache, Gedanken, Bedürfnissen und moralischen Ideen seine Grundlage, in der Einheit
von Sitte, Recht und Verkehrsorganisation seine Stützen hat. Sie ist ein Schlachtfeld,
auf dem der Kampf um die Herrschaft und der Irrtum ihre Spuren hinterlassen, aber
sie ist zugleich eine Friedensgemeinschaft mit zunehmender sittlicher Ordnung. Die Fort-
schritte der Technik, des Verkehrs, der Bevölkerung rütteln täglich an dem bestehenden
Systeme der Arbeitsteilung; je komplizierter das ganze System ist, je rascher es sich
ändert und vergrößert, desto leichter kann ein einseitiges Wachsen an dieser oder jener
Stelle und damit eine zeitweise Inkongruenz der arbeitsteilig aufeinander angewiesenen
Teile eintreten. Nur ein Thor könnte leugnen, daß zeitweise recht ungesunde parasitische
Mittelglieder sich in den vielgliedrigen Mechanismus der arbeitsteiligen Gesellschaft

Die Komplizierung der menſchlichen Motive durch die Arbeitsteilung.
ſtellung der Bedarfsdeckung wirken noch mit, aber müſſen auf komplizierte Umwege ſich
begeben; es muß ſich ein vielgeſtaltiges Lock- und Zwangsſyſtem ausbilden, wobei Lohn
und Gewinn, Ehre, Freude am techniſchen Erfolge, Furcht und Zwang zuſammenwirken.
Alles individuelle Leben, ſeine Geſtaltung, die ganze Lebensführung wird jetzt von dem
eingangs erwähnten Kompromiß von unveräußerlichen Eigenzwecken und geſellſchaftlichen
Aufgaben und Pflichten, von Zwecken, die dem einzelnen zunächſt nicht als die ſeinen
erſcheinen, beherrſcht; für ſolche thätig zu ſein, iſt ſchwer zu erlernen; der natürliche
Menſch ſträubt ſich dagegen, wenn er nicht viel gewinnt. Und wird ihm das geſtattet,
ſo geht er leicht über die Grenze, mißhandelt die Schwächeren. Alle Moral, alle
Pflichtenlehre muß eine andere, kompliziertere werden; alle Erwerbs- und Gewinnarten
müſſen erſt in Recht und Sitte, im Gefühl und in der Moral ihre rechten Schranken
erhalten. Es iſt vielleicht die größte moraliſch-pſychologiſche Aufgabe, vor die die
Menſchheit ſo geſtellt iſt.

Alle ſocialen Inſtitutionen, durch welche die Arbeitsteilung allein wirken kann,
ſind abhängig von dem jeweiligen Stande dieſes pſychologiſch-hiſtoriſchen Prozeſſes; nur
große geiſtige und moraliſche Fortſchritte können ihn ſo geſtalten, daß die Arbeitsteilung
als rein ſegensreich ſich darſtellt. Alle Inſtitutionen der Geſellſchaft müſſen nun ſo
beſchaffen ſein, daß ſie nicht bloß dem Bedürfniſſe des Tages, dem heutigen Stande der
Arbeitsteilung entſprechen, ſondern ſo, daß ſie auch dieſen pſychologiſchen Umbildungs-
prozeß richtig fördern. Wie ſchwierig iſt das! Wie leicht kann aus der fortſchreitenden
Arbeitsteilung deshalb da und dort mehr Reibung und Kampf, mehr Verwirrung und
Druck als vollendete Vergeſellſchaftung entſpringen. —

Faſſen wir das über die Urſachen und Bedingungen der Arbeitsteilung Geſagte
nochmal zuſammen, und vergleichen wir unſere Auffaſſung mit der älteren, ſo leiten wir
ſie in erſter Linie aus den geiſtigen und techniſchen Fortſchritten ab, die mit dichterer
Bevölkerung in größeren Staaten unter dem harten Drucke des Daſeinskampfes ent-
ſtanden; wir begreifen ſie als den elementar notwendigen geſellſchaftlichen Anpaſſungs-
und Differenzierungsprozeß, der ſtets auf eine höhere Form der Vergeſellſchaftung hinzielt,
aber nur unter der Bedingung beſſerer Moral, vollendeterer geſellſchaftlicher Organi-
ſationen und Rechtsformen dies Ziel erreichen kann.

Die mancheſterliche Nationalökonomie betrachtete von ihrem technologiſch-indivi-
dualiſtiſchen Standpunkte aus die Arbeitsteilung als eine Art Wunderwerk, als eine
präſtabilierte Harmonie, in die ſich die ſelbſtändig und iſoliert gedachten Individuen
unbewußt oder gelockt durch die Vorteile des Tauſchverkehrs gleichſam willenlos einfügen.
Der Socialismus von Marx ſah nur in der Despotie des Dorfpatriarchen, des Werkſtatt-
vorſtehers, des großen Fabrikanten eine vernünftige, weil von oben geleitete Arbeits-
teilung, in allen anderen Teilen derſelben eine Anarchie, in der nur Zufall und Willkür
ihr Spiel treiben, und die Marktwerte vergeblich ſich abmühen, das Gleichgewicht zwiſchen
den geſellſchaftlichen Arbeitszweigen herzuſtellen. Während jene ältere mancheſterliche Auf-
faſſung unbedingte Freiheit und Willkür, dieſe jüngere ſocialiſtiſche von Marx centra-
liſtiſchen Despotismus für die Durchführung aller Arbeitsteilung verlangte, ſind ſie
beide das Produkt einer gänzlich unhiſtoriſchen, atomiſtiſchen und materialiſtiſchen
Geſellſchaftsauffaſſung. Die Arbeitsteilung iſt weder ein abſolut harmoniſcher, noch ein
ganz anarchiſcher, ſondern ſie iſt ein geſellſchaftlicher Prozeß, der in der Einheit von
Sprache, Gedanken, Bedürfniſſen und moraliſchen Ideen ſeine Grundlage, in der Einheit
von Sitte, Recht und Verkehrsorganiſation ſeine Stützen hat. Sie iſt ein Schlachtfeld,
auf dem der Kampf um die Herrſchaft und der Irrtum ihre Spuren hinterlaſſen, aber
ſie iſt zugleich eine Friedensgemeinſchaft mit zunehmender ſittlicher Ordnung. Die Fort-
ſchritte der Technik, des Verkehrs, der Bevölkerung rütteln täglich an dem beſtehenden
Syſteme der Arbeitsteilung; je komplizierter das ganze Syſtem iſt, je raſcher es ſich
ändert und vergrößert, deſto leichter kann ein einſeitiges Wachſen an dieſer oder jener
Stelle und damit eine zeitweiſe Inkongruenz der arbeitsteilig aufeinander angewieſenen
Teile eintreten. Nur ein Thor könnte leugnen, daß zeitweiſe recht ungeſunde paraſitiſche
Mittelglieder ſich in den vielgliedrigen Mechanismus der arbeitsteiligen Geſellſchaft

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[363/0379] Die Komplizierung der menſchlichen Motive durch die Arbeitsteilung. ſtellung der Bedarfsdeckung wirken noch mit, aber müſſen auf komplizierte Umwege ſich begeben; es muß ſich ein vielgeſtaltiges Lock- und Zwangsſyſtem ausbilden, wobei Lohn und Gewinn, Ehre, Freude am techniſchen Erfolge, Furcht und Zwang zuſammenwirken. Alles individuelle Leben, ſeine Geſtaltung, die ganze Lebensführung wird jetzt von dem eingangs erwähnten Kompromiß von unveräußerlichen Eigenzwecken und geſellſchaftlichen Aufgaben und Pflichten, von Zwecken, die dem einzelnen zunächſt nicht als die ſeinen erſcheinen, beherrſcht; für ſolche thätig zu ſein, iſt ſchwer zu erlernen; der natürliche Menſch ſträubt ſich dagegen, wenn er nicht viel gewinnt. Und wird ihm das geſtattet, ſo geht er leicht über die Grenze, mißhandelt die Schwächeren. Alle Moral, alle Pflichtenlehre muß eine andere, kompliziertere werden; alle Erwerbs- und Gewinnarten müſſen erſt in Recht und Sitte, im Gefühl und in der Moral ihre rechten Schranken erhalten. Es iſt vielleicht die größte moraliſch-pſychologiſche Aufgabe, vor die die Menſchheit ſo geſtellt iſt. Alle ſocialen Inſtitutionen, durch welche die Arbeitsteilung allein wirken kann, ſind abhängig von dem jeweiligen Stande dieſes pſychologiſch-hiſtoriſchen Prozeſſes; nur große geiſtige und moraliſche Fortſchritte können ihn ſo geſtalten, daß die Arbeitsteilung als rein ſegensreich ſich darſtellt. Alle Inſtitutionen der Geſellſchaft müſſen nun ſo beſchaffen ſein, daß ſie nicht bloß dem Bedürfniſſe des Tages, dem heutigen Stande der Arbeitsteilung entſprechen, ſondern ſo, daß ſie auch dieſen pſychologiſchen Umbildungs- prozeß richtig fördern. Wie ſchwierig iſt das! Wie leicht kann aus der fortſchreitenden Arbeitsteilung deshalb da und dort mehr Reibung und Kampf, mehr Verwirrung und Druck als vollendete Vergeſellſchaftung entſpringen. — Faſſen wir das über die Urſachen und Bedingungen der Arbeitsteilung Geſagte nochmal zuſammen, und vergleichen wir unſere Auffaſſung mit der älteren, ſo leiten wir ſie in erſter Linie aus den geiſtigen und techniſchen Fortſchritten ab, die mit dichterer Bevölkerung in größeren Staaten unter dem harten Drucke des Daſeinskampfes ent- ſtanden; wir begreifen ſie als den elementar notwendigen geſellſchaftlichen Anpaſſungs- und Differenzierungsprozeß, der ſtets auf eine höhere Form der Vergeſellſchaftung hinzielt, aber nur unter der Bedingung beſſerer Moral, vollendeterer geſellſchaftlicher Organi- ſationen und Rechtsformen dies Ziel erreichen kann. Die mancheſterliche Nationalökonomie betrachtete von ihrem technologiſch-indivi- dualiſtiſchen Standpunkte aus die Arbeitsteilung als eine Art Wunderwerk, als eine präſtabilierte Harmonie, in die ſich die ſelbſtändig und iſoliert gedachten Individuen unbewußt oder gelockt durch die Vorteile des Tauſchverkehrs gleichſam willenlos einfügen. Der Socialismus von Marx ſah nur in der Despotie des Dorfpatriarchen, des Werkſtatt- vorſtehers, des großen Fabrikanten eine vernünftige, weil von oben geleitete Arbeits- teilung, in allen anderen Teilen derſelben eine Anarchie, in der nur Zufall und Willkür ihr Spiel treiben, und die Marktwerte vergeblich ſich abmühen, das Gleichgewicht zwiſchen den geſellſchaftlichen Arbeitszweigen herzuſtellen. Während jene ältere mancheſterliche Auf- faſſung unbedingte Freiheit und Willkür, dieſe jüngere ſocialiſtiſche von Marx centra- liſtiſchen Despotismus für die Durchführung aller Arbeitsteilung verlangte, ſind ſie beide das Produkt einer gänzlich unhiſtoriſchen, atomiſtiſchen und materialiſtiſchen Geſellſchaftsauffaſſung. Die Arbeitsteilung iſt weder ein abſolut harmoniſcher, noch ein ganz anarchiſcher, ſondern ſie iſt ein geſellſchaftlicher Prozeß, der in der Einheit von Sprache, Gedanken, Bedürfniſſen und moraliſchen Ideen ſeine Grundlage, in der Einheit von Sitte, Recht und Verkehrsorganiſation ſeine Stützen hat. Sie iſt ein Schlachtfeld, auf dem der Kampf um die Herrſchaft und der Irrtum ihre Spuren hinterlaſſen, aber ſie iſt zugleich eine Friedensgemeinſchaft mit zunehmender ſittlicher Ordnung. Die Fort- ſchritte der Technik, des Verkehrs, der Bevölkerung rütteln täglich an dem beſtehenden Syſteme der Arbeitsteilung; je komplizierter das ganze Syſtem iſt, je raſcher es ſich ändert und vergrößert, deſto leichter kann ein einſeitiges Wachſen an dieſer oder jener Stelle und damit eine zeitweiſe Inkongruenz der arbeitsteilig aufeinander angewieſenen Teile eintreten. Nur ein Thor könnte leugnen, daß zeitweiſe recht ungeſunde paraſitiſche Mittelglieder ſich in den vielgliedrigen Mechanismus der arbeitsteiligen Geſellſchaft

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/379>, abgerufen am 26.04.2024.