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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
ihre Einrichtungen, in Niedersachsen mehr im Anschluß an die freie Initiative der Ein-
wohner. Von der Gründung Freiburgs und Hagenaus (1120 und 1164) an ist auch
im Südwesten der Sinn für städtische Selbständigkeit so gestiegen, daß die örtliche
Scheidung des königlichen oder fürstlichen Hofes von der Stadt als Bedingung der
Blüte gilt. Und indem so Autonomie und Städtefreiheit, d. h. eine größere rechtliche
und verwaltungsmäßige Unabhängigkeit der Stadtkorporation gegenüber dem Stadtherrn
sich entwickelte (in Deutschland mehr als anderwärts, aber ähnlich doch auch in Frank-
reich, England etc.), vollendete sich der tiefgreifende wirtschaftspolitische und rechtliche
Gegensatz von Stadt und Land, der erst in neuester Zeit dem Grundsatze der Rechts-
gleichheit wich.

Außer der städtischen, meist die der Dörfer wesentlich übertreffenden Gemarkung
hatten die Städte ursprünglich kein Gebiet; wohl kauften die reicheren nach und nach
Dörfer, Zollrechte, kleine Städte und ganze Herrschaften auf, nahmen Ritter als Aus-
bürger an, suchten überhaupt ihre Macht zu einer territorialen Herrschaft auf einige,
oft 10--15 Geviertmeilen auszuweiten; aber während das den italienischen großen
Kommunen gelang, weil sie viel mehr als die deutschen den Adel in ihren Mauern
behielten, war dies in Frankreich und England unmöglich durch die frühe Aufrichtung
einer königlichen Centralgewalt, und scheiterte die Bemühung der deutschen Städte in
den Städtekriegen an der festen Organisation der Aristokratie des platten Landes, an
der bereits vorhandenen Macht der Territorialherren.

Das wunderbar schnelle und glänzende Aufblühen der größeren deutschen Städte
von 1200--1500 ist teils dem Zuge der Welthandelsstraße durch Deutschland und
dem deutschen Ostseehandel, teils der politischen Thatsache zu danken, daß nach dem
Untergange einer festen deutschen Centralgewalt die großen Städte fast unabhängige
Republiken wurden, die auch ohne großes eigenes Landgebiet durch eine energische, kluge,
zugreifende lokale Wirtschaftspolitik bis gegen 1450 den agrarischen territorialen Fürsten-
tümern vielfach überlegen waren. Die Verlegung des Welthandels nach dem atlantischen
Ozean und der Sieg des Territorialfürstentums von 1450 ab nahm den Städten die
Möglichkeit weiteren einseitigen Wachstums; durch den dreißigjährigen Krieg war der
größere Teil der deutschen städtischen Kultur vernichtet. Vom 18. Jahrhundert an
konnten die deutschen Städte, wie schon seit Jahrhunderten die französischen und eng-
lischen, nur noch als dem Fürstentum untergeordnete Gemeinden emporkommen.

Die Größe der älteren Städte hat man bis vor kurzer Zeit außerordentlich über-
schätzt. Jetzt hat eine genaue, umfangreiche Forschung uns belehrt, daß vor 1400 wohl
nur die durch den Wasserverkehr begünstigten Städte Köln und Lübeck etwa 30000 Seelen
überschritten, gegen 1600 vielleicht noch einige andere Städte einer solchen Zahl nahe
kamen oder sie übertrafen, daß die angesehensten und reichsten Städte ohne Wasser-
verkehr sich zwischen 5 und 25000 Seelen bewegten, daß selbst viele relativ bedeutende
5000 Seelen nicht überschritten und die Mehrzahl aller Städte zwischen 1000 und
5000 Seelen schwankte. Eine Parallele dazu ist, daß Rogers fürs Jahr 1377 London
35000, fünf anderen englischen Städten 5--11000, allen anderen englischen Städten
weniger zuschreibt. Burckhardt giebt Venedig 1422 190000, Florenz 1338 90000 Seelen.
Ob die Meinung Cibrarios und Levasseurs, Mailand und Paris hätten gegen 1300
schon 200000 Seelen gehabt, haltbar ist, scheint zweifelhaft. Daß sie, wie auch vielleicht
Brügge und Gent, 50--60000 überschritten hatten, wenn Köln über 30000 besaß, ist
denkbar. Daß Antwerpen 1549--61 aber etwa 200000 Einwohner erreicht, ist so
wahrscheinlich, wie daß London 1580 schon 180000 Seelen gehabt habe.

Wie die Bevölkerung überhaupt im Mittelalter viel stärkeren Wechseln ausgesetzt
war als heute, so sehen wir auch die einzelnen Städte je nach dem Wechsel ihrer
Lebensbedingungen rasch zunehmen und rasch sinken. Eine allgemeine Stockung der
städtischen Entwickelung tritt ziemlich allgemein vom 15.--17. Jahrhundert ein. Die
meisten Städte hatten die Größe erreicht, welche ihnen als Marktmittelpunkt ihrer Um-
gebung möglich war; nur wenige konnten darüber hinauskommen. Vom 16.--18. Jahr-
hundert herrscht Verknöcherung, Erschwerung des Umzugs, der Wanderungen. Noch im

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ihre Einrichtungen, in Niederſachſen mehr im Anſchluß an die freie Initiative der Ein-
wohner. Von der Gründung Freiburgs und Hagenaus (1120 und 1164) an iſt auch
im Südweſten der Sinn für ſtädtiſche Selbſtändigkeit ſo geſtiegen, daß die örtliche
Scheidung des königlichen oder fürſtlichen Hofes von der Stadt als Bedingung der
Blüte gilt. Und indem ſo Autonomie und Städtefreiheit, d. h. eine größere rechtliche
und verwaltungsmäßige Unabhängigkeit der Stadtkorporation gegenüber dem Stadtherrn
ſich entwickelte (in Deutſchland mehr als anderwärts, aber ähnlich doch auch in Frank-
reich, England ꝛc.), vollendete ſich der tiefgreifende wirtſchaftspolitiſche und rechtliche
Gegenſatz von Stadt und Land, der erſt in neueſter Zeit dem Grundſatze der Rechts-
gleichheit wich.

Außer der ſtädtiſchen, meiſt die der Dörfer weſentlich übertreffenden Gemarkung
hatten die Städte urſprünglich kein Gebiet; wohl kauften die reicheren nach und nach
Dörfer, Zollrechte, kleine Städte und ganze Herrſchaften auf, nahmen Ritter als Aus-
bürger an, ſuchten überhaupt ihre Macht zu einer territorialen Herrſchaft auf einige,
oft 10—15 Geviertmeilen auszuweiten; aber während das den italieniſchen großen
Kommunen gelang, weil ſie viel mehr als die deutſchen den Adel in ihren Mauern
behielten, war dies in Frankreich und England unmöglich durch die frühe Aufrichtung
einer königlichen Centralgewalt, und ſcheiterte die Bemühung der deutſchen Städte in
den Städtekriegen an der feſten Organiſation der Ariſtokratie des platten Landes, an
der bereits vorhandenen Macht der Territorialherren.

Das wunderbar ſchnelle und glänzende Aufblühen der größeren deutſchen Städte
von 1200—1500 iſt teils dem Zuge der Welthandelsſtraße durch Deutſchland und
dem deutſchen Oſtſeehandel, teils der politiſchen Thatſache zu danken, daß nach dem
Untergange einer feſten deutſchen Centralgewalt die großen Städte faſt unabhängige
Republiken wurden, die auch ohne großes eigenes Landgebiet durch eine energiſche, kluge,
zugreifende lokale Wirtſchaftspolitik bis gegen 1450 den agrariſchen territorialen Fürſten-
tümern vielfach überlegen waren. Die Verlegung des Welthandels nach dem atlantiſchen
Ozean und der Sieg des Territorialfürſtentums von 1450 ab nahm den Städten die
Möglichkeit weiteren einſeitigen Wachstums; durch den dreißigjährigen Krieg war der
größere Teil der deutſchen ſtädtiſchen Kultur vernichtet. Vom 18. Jahrhundert an
konnten die deutſchen Städte, wie ſchon ſeit Jahrhunderten die franzöſiſchen und eng-
liſchen, nur noch als dem Fürſtentum untergeordnete Gemeinden emporkommen.

Die Größe der älteren Städte hat man bis vor kurzer Zeit außerordentlich über-
ſchätzt. Jetzt hat eine genaue, umfangreiche Forſchung uns belehrt, daß vor 1400 wohl
nur die durch den Waſſerverkehr begünſtigten Städte Köln und Lübeck etwa 30000 Seelen
überſchritten, gegen 1600 vielleicht noch einige andere Städte einer ſolchen Zahl nahe
kamen oder ſie übertrafen, daß die angeſehenſten und reichſten Städte ohne Waſſer-
verkehr ſich zwiſchen 5 und 25000 Seelen bewegten, daß ſelbſt viele relativ bedeutende
5000 Seelen nicht überſchritten und die Mehrzahl aller Städte zwiſchen 1000 und
5000 Seelen ſchwankte. Eine Parallele dazu iſt, daß Rogers fürs Jahr 1377 London
35000, fünf anderen engliſchen Städten 5—11000, allen anderen engliſchen Städten
weniger zuſchreibt. Burckhardt giebt Venedig 1422 190000, Florenz 1338 90000 Seelen.
Ob die Meinung Cibrarios und Levaſſeurs, Mailand und Paris hätten gegen 1300
ſchon 200000 Seelen gehabt, haltbar iſt, ſcheint zweifelhaft. Daß ſie, wie auch vielleicht
Brügge und Gent, 50—60000 überſchritten hatten, wenn Köln über 30000 beſaß, iſt
denkbar. Daß Antwerpen 1549—61 aber etwa 200000 Einwohner erreicht, iſt ſo
wahrſcheinlich, wie daß London 1580 ſchon 180000 Seelen gehabt habe.

Wie die Bevölkerung überhaupt im Mittelalter viel ſtärkeren Wechſeln ausgeſetzt
war als heute, ſo ſehen wir auch die einzelnen Städte je nach dem Wechſel ihrer
Lebensbedingungen raſch zunehmen und raſch ſinken. Eine allgemeine Stockung der
ſtädtiſchen Entwickelung tritt ziemlich allgemein vom 15.—17. Jahrhundert ein. Die
meiſten Städte hatten die Größe erreicht, welche ihnen als Marktmittelpunkt ihrer Um-
gebung möglich war; nur wenige konnten darüber hinauskommen. Vom 16.—18. Jahr-
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[266/0282] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. ihre Einrichtungen, in Niederſachſen mehr im Anſchluß an die freie Initiative der Ein- wohner. Von der Gründung Freiburgs und Hagenaus (1120 und 1164) an iſt auch im Südweſten der Sinn für ſtädtiſche Selbſtändigkeit ſo geſtiegen, daß die örtliche Scheidung des königlichen oder fürſtlichen Hofes von der Stadt als Bedingung der Blüte gilt. Und indem ſo Autonomie und Städtefreiheit, d. h. eine größere rechtliche und verwaltungsmäßige Unabhängigkeit der Stadtkorporation gegenüber dem Stadtherrn ſich entwickelte (in Deutſchland mehr als anderwärts, aber ähnlich doch auch in Frank- reich, England ꝛc.), vollendete ſich der tiefgreifende wirtſchaftspolitiſche und rechtliche Gegenſatz von Stadt und Land, der erſt in neueſter Zeit dem Grundſatze der Rechts- gleichheit wich. Außer der ſtädtiſchen, meiſt die der Dörfer weſentlich übertreffenden Gemarkung hatten die Städte urſprünglich kein Gebiet; wohl kauften die reicheren nach und nach Dörfer, Zollrechte, kleine Städte und ganze Herrſchaften auf, nahmen Ritter als Aus- bürger an, ſuchten überhaupt ihre Macht zu einer territorialen Herrſchaft auf einige, oft 10—15 Geviertmeilen auszuweiten; aber während das den italieniſchen großen Kommunen gelang, weil ſie viel mehr als die deutſchen den Adel in ihren Mauern behielten, war dies in Frankreich und England unmöglich durch die frühe Aufrichtung einer königlichen Centralgewalt, und ſcheiterte die Bemühung der deutſchen Städte in den Städtekriegen an der feſten Organiſation der Ariſtokratie des platten Landes, an der bereits vorhandenen Macht der Territorialherren. Das wunderbar ſchnelle und glänzende Aufblühen der größeren deutſchen Städte von 1200—1500 iſt teils dem Zuge der Welthandelsſtraße durch Deutſchland und dem deutſchen Oſtſeehandel, teils der politiſchen Thatſache zu danken, daß nach dem Untergange einer feſten deutſchen Centralgewalt die großen Städte faſt unabhängige Republiken wurden, die auch ohne großes eigenes Landgebiet durch eine energiſche, kluge, zugreifende lokale Wirtſchaftspolitik bis gegen 1450 den agrariſchen territorialen Fürſten- tümern vielfach überlegen waren. Die Verlegung des Welthandels nach dem atlantiſchen Ozean und der Sieg des Territorialfürſtentums von 1450 ab nahm den Städten die Möglichkeit weiteren einſeitigen Wachstums; durch den dreißigjährigen Krieg war der größere Teil der deutſchen ſtädtiſchen Kultur vernichtet. Vom 18. Jahrhundert an konnten die deutſchen Städte, wie ſchon ſeit Jahrhunderten die franzöſiſchen und eng- liſchen, nur noch als dem Fürſtentum untergeordnete Gemeinden emporkommen. Die Größe der älteren Städte hat man bis vor kurzer Zeit außerordentlich über- ſchätzt. Jetzt hat eine genaue, umfangreiche Forſchung uns belehrt, daß vor 1400 wohl nur die durch den Waſſerverkehr begünſtigten Städte Köln und Lübeck etwa 30000 Seelen überſchritten, gegen 1600 vielleicht noch einige andere Städte einer ſolchen Zahl nahe kamen oder ſie übertrafen, daß die angeſehenſten und reichſten Städte ohne Waſſer- verkehr ſich zwiſchen 5 und 25000 Seelen bewegten, daß ſelbſt viele relativ bedeutende 5000 Seelen nicht überſchritten und die Mehrzahl aller Städte zwiſchen 1000 und 5000 Seelen ſchwankte. Eine Parallele dazu iſt, daß Rogers fürs Jahr 1377 London 35000, fünf anderen engliſchen Städten 5—11000, allen anderen engliſchen Städten weniger zuſchreibt. Burckhardt giebt Venedig 1422 190000, Florenz 1338 90000 Seelen. Ob die Meinung Cibrarios und Levaſſeurs, Mailand und Paris hätten gegen 1300 ſchon 200000 Seelen gehabt, haltbar iſt, ſcheint zweifelhaft. Daß ſie, wie auch vielleicht Brügge und Gent, 50—60000 überſchritten hatten, wenn Köln über 30000 beſaß, iſt denkbar. Daß Antwerpen 1549—61 aber etwa 200000 Einwohner erreicht, iſt ſo wahrſcheinlich, wie daß London 1580 ſchon 180000 Seelen gehabt habe. Wie die Bevölkerung überhaupt im Mittelalter viel ſtärkeren Wechſeln ausgeſetzt war als heute, ſo ſehen wir auch die einzelnen Städte je nach dem Wechſel ihrer Lebensbedingungen raſch zunehmen und raſch ſinken. Eine allgemeine Stockung der ſtädtiſchen Entwickelung tritt ziemlich allgemein vom 15.—17. Jahrhundert ein. Die meiſten Städte hatten die Größe erreicht, welche ihnen als Marktmittelpunkt ihrer Um- gebung möglich war; nur wenige konnten darüber hinauskommen. Vom 16.—18. Jahr- hundert herrſcht Verknöcherung, Erſchwerung des Umzugs, der Wanderungen. Noch im

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/282>, abgerufen am 26.04.2024.