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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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mehr verbreitete, besonders in dem griechisch redenden Theile, und
nun christliche Schriftsteller und Redner auftraten, welche zunächst
in der gewöhnlichen griechischen Sprache erzogen und davon her-
gekommen waren, mußten diese doch in gewissem Grade die
Mischung und Abweichung der neutest. Sprache aufnehmen.
Denn das neue Testam. ging in das gemeine christliche Leben
über, und durch seinen häufigen Gebrauch verloren die abweichen-
den Formen seiner Sprache das Fremde, je mehr religiös ge-
sprochen und geschrieben wurde. Dieß war gerade da der Fall, als
das öffentliche Leben zerfallen war. So ist zu erwarten, daß wir
in der Gräcität der griechischen Kirche Analogien der neutest. finden.
Und zwar finden wir eine Abstufung darin von zwei entgegengesez-
ten Punkten aus. Erstlich, je mehr sich die christlichen Grund-
ideen aus der heiligen Schrift in dieser Sprache fixirt hatten und
leitende Principien wurden für die Gedankenconstruction, desto
mehr Einfluß gewannen die Formen und Abweichungen der neu-
testamentlichen Sprache und wurden aufgenommen, weil unzer-
trennlich von jenen Ideen. Zweitens, je mehr in der Christenheit
solche Lehrer und Schriftsteller zum Vorschein kamen, welche in
der ursprünglichen Gräcität geboren und erzogen und von der
alten Gräcität genährt waren, desto mehr wurde von diesen die
neutestam. Mischung und Unregelmäßigkeit abgestreift und die
Darstellung der christlichen Grundidien in reiner Gräcität ange-
strebt. Allein die neutest. Gräcität ist in der griechischen Kirche
nie ganz überwunden und verschwunden. Und so hat das neu-
testamentliche Sprachgebiet einen viel größeren Umfang, als man
gewöhnlich glaubt.

Um zur genaueren Einsicht in den Charakter der neutestam.
Sprache zu gelangen, muß man auf den Proceß der Bilinguität,
oder auf die Art und Weise, zwei Sprachen zu haben, zurück-
gehen. Dieser Proceß ist ein zwiefacher. Wir gelangen zum
Besiz einer alten Sprache auf künstlerischem Wege, so daß wir
die Grammatik eher als die Sprache bekommen. Wir lernen die
alte Sprache nicht im lebendigen Gebrauch. Unser Gebrauch ist

mehr verbreitete, beſonders in dem griechiſch redenden Theile, und
nun chriſtliche Schriftſteller und Redner auftraten, welche zunaͤchſt
in der gewoͤhnlichen griechiſchen Sprache erzogen und davon her-
gekommen waren, mußten dieſe doch in gewiſſem Grade die
Miſchung und Abweichung der neuteſt. Sprache aufnehmen.
Denn das neue Teſtam. ging in das gemeine chriſtliche Leben
uͤber, und durch ſeinen haͤufigen Gebrauch verloren die abweichen-
den Formen ſeiner Sprache das Fremde, je mehr religioͤs ge-
ſprochen und geſchrieben wurde. Dieß war gerade da der Fall, als
das oͤffentliche Leben zerfallen war. So iſt zu erwarten, daß wir
in der Graͤcitaͤt der griechiſchen Kirche Analogien der neuteſt. finden.
Und zwar finden wir eine Abſtufung darin von zwei entgegengeſez-
ten Punkten aus. Erſtlich, je mehr ſich die chriſtlichen Grund-
ideen aus der heiligen Schrift in dieſer Sprache fixirt hatten und
leitende Principien wurden fuͤr die Gedankenconſtruction, deſto
mehr Einfluß gewannen die Formen und Abweichungen der neu-
teſtamentlichen Sprache und wurden aufgenommen, weil unzer-
trennlich von jenen Ideen. Zweitens, je mehr in der Chriſtenheit
ſolche Lehrer und Schriftſteller zum Vorſchein kamen, welche in
der urſpruͤnglichen Graͤcitaͤt geboren und erzogen und von der
alten Graͤcitaͤt genaͤhrt waren, deſto mehr wurde von dieſen die
neuteſtam. Miſchung und Unregelmaͤßigkeit abgeſtreift und die
Darſtellung der chriſtlichen Grundidien in reiner Graͤcitaͤt ange-
ſtrebt. Allein die neuteſt. Graͤcitaͤt iſt in der griechiſchen Kirche
nie ganz uͤberwunden und verſchwunden. Und ſo hat das neu-
teſtamentliche Sprachgebiet einen viel groͤßeren Umfang, als man
gewoͤhnlich glaubt.

Um zur genaueren Einſicht in den Charakter der neuteſtam.
Sprache zu gelangen, muß man auf den Proceß der Bilinguitaͤt,
oder auf die Art und Weiſe, zwei Sprachen zu haben, zuruͤck-
gehen. Dieſer Proceß iſt ein zwiefacher. Wir gelangen zum
Beſiz einer alten Sprache auf kuͤnſtleriſchem Wege, ſo daß wir
die Grammatik eher als die Sprache bekommen. Wir lernen die
alte Sprache nicht im lebendigen Gebrauch. Unſer Gebrauch iſt

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[60/0084] mehr verbreitete, beſonders in dem griechiſch redenden Theile, und nun chriſtliche Schriftſteller und Redner auftraten, welche zunaͤchſt in der gewoͤhnlichen griechiſchen Sprache erzogen und davon her- gekommen waren, mußten dieſe doch in gewiſſem Grade die Miſchung und Abweichung der neuteſt. Sprache aufnehmen. Denn das neue Teſtam. ging in das gemeine chriſtliche Leben uͤber, und durch ſeinen haͤufigen Gebrauch verloren die abweichen- den Formen ſeiner Sprache das Fremde, je mehr religioͤs ge- ſprochen und geſchrieben wurde. Dieß war gerade da der Fall, als das oͤffentliche Leben zerfallen war. So iſt zu erwarten, daß wir in der Graͤcitaͤt der griechiſchen Kirche Analogien der neuteſt. finden. Und zwar finden wir eine Abſtufung darin von zwei entgegengeſez- ten Punkten aus. Erſtlich, je mehr ſich die chriſtlichen Grund- ideen aus der heiligen Schrift in dieſer Sprache fixirt hatten und leitende Principien wurden fuͤr die Gedankenconſtruction, deſto mehr Einfluß gewannen die Formen und Abweichungen der neu- teſtamentlichen Sprache und wurden aufgenommen, weil unzer- trennlich von jenen Ideen. Zweitens, je mehr in der Chriſtenheit ſolche Lehrer und Schriftſteller zum Vorſchein kamen, welche in der urſpruͤnglichen Graͤcitaͤt geboren und erzogen und von der alten Graͤcitaͤt genaͤhrt waren, deſto mehr wurde von dieſen die neuteſtam. Miſchung und Unregelmaͤßigkeit abgeſtreift und die Darſtellung der chriſtlichen Grundidien in reiner Graͤcitaͤt ange- ſtrebt. Allein die neuteſt. Graͤcitaͤt iſt in der griechiſchen Kirche nie ganz uͤberwunden und verſchwunden. Und ſo hat das neu- teſtamentliche Sprachgebiet einen viel groͤßeren Umfang, als man gewoͤhnlich glaubt. Um zur genaueren Einſicht in den Charakter der neuteſtam. Sprache zu gelangen, muß man auf den Proceß der Bilinguitaͤt, oder auf die Art und Weiſe, zwei Sprachen zu haben, zuruͤck- gehen. Dieſer Proceß iſt ein zwiefacher. Wir gelangen zum Beſiz einer alten Sprache auf kuͤnſtleriſchem Wege, ſo daß wir die Grammatik eher als die Sprache bekommen. Wir lernen die alte Sprache nicht im lebendigen Gebrauch. Unſer Gebrauch iſt

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/84>, abgerufen am 26.04.2024.