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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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titative, das Verhältniß des Emphatischen zu dem Unbedeuten-
den, Tautologischen, Abundirenden. Von unserm Principe aus
kommen wir auf solche Maximen nicht; aber durch ihre Geltung
haben sie ein Recht auf genauere Untersuchung erlangt.

Die erste Maxime, völlig allgemein alle Sprachelemente um-
fassend, materielle und formelle, lautet so, daß im N. T.
niemals ein uneigentlicher Gebrauch zuzulassen sei, so lange es ir-
gend möglich sei, die eigentlichen geltend zu machen. Von selbst
sind ausgeschlossen solche Stellen, wo der uneigentliche Gebrauch
bestimmt indicirt ist, also z. B. in allen augenscheinlich metapho-
rischen und parabolischen Stellen. Es werden die Fälle gedacht,
wo das Eigentliche und Uneigentliche gleich denkbar ist. Da soll
denn jedesmal der eigentliche Gebrauch vorgezogen werden. Es
beruht dieß auf der Voraussezung, daß die neutest. Schriftsteller
in jedem Falle, wo eigentlicher und uneigentlicher Gebrauch mög-
lich war, immer den ersten gewählt haben. Auf diese kuriolexia
legten die Alten schon einen großen Werth. Aber die Nothwen-
digkeit der kuriolexia ist nicht überall gleich. Sie ist nothwendig
z. B. bei Schließung einer Übereinkunft, wo es auf die möglich
größte Bestimmtheit im Ausdruck ankommt. Aber mit welchem
Rechte verlangt man die kuriolexia von den neutest. Schriftstel-
lern? Einmal geht man davon aus, daß man von dem Un-
eigentlichen doch nur dann Gebrauch mache, wenn der eigentliche
Ausdruck in der Sprache nicht sowol fehle, als nicht gegenwärtig
sei. In der Inspiration der heil. Schrift liege aber die Allgegen-
wärtigkeit der Sprache, d. h. die stete Gegenwärtigkeit des richti-
gen und eigentlichen Ausdrucks bei den heil. Schriftstellern, also
Unfehlbarkeit in dieser Hinsicht. Sodann aber sagt man auch,
die neutest. Schriften seien gerade eben so bestimmt, eine genaue
Darstellung der göttlichen Wahrheit zu geben, wie ein Contract
bestimmt sei, die Verbindlichkeit beider Theile genau anzugeben,
und so müsse bei beiden dieselbe Regel gelten; daher seien lauter
eigentliche Ausdrücke nothwendig, wenn nicht die Schrift ihrem
Zwecke nur unvollkommen entsprechen solle. -- Man kann dieß im

titative, das Verhaͤltniß des Emphatiſchen zu dem Unbedeuten-
den, Tautologiſchen, Abundirenden. Von unſerm Principe aus
kommen wir auf ſolche Maximen nicht; aber durch ihre Geltung
haben ſie ein Recht auf genauere Unterſuchung erlangt.

Die erſte Maxime, voͤllig allgemein alle Sprachelemente um-
faſſend, materielle und formelle, lautet ſo, daß im N. T.
niemals ein uneigentlicher Gebrauch zuzulaſſen ſei, ſo lange es ir-
gend moͤglich ſei, die eigentlichen geltend zu machen. Von ſelbſt
ſind ausgeſchloſſen ſolche Stellen, wo der uneigentliche Gebrauch
beſtimmt indicirt iſt, alſo z. B. in allen augenſcheinlich metapho-
riſchen und paraboliſchen Stellen. Es werden die Faͤlle gedacht,
wo das Eigentliche und Uneigentliche gleich denkbar iſt. Da ſoll
denn jedesmal der eigentliche Gebrauch vorgezogen werden. Es
beruht dieß auf der Vorausſezung, daß die neuteſt. Schriftſteller
in jedem Falle, wo eigentlicher und uneigentlicher Gebrauch moͤg-
lich war, immer den erſten gewaͤhlt haben. Auf dieſe ϰυϱιολεξία
legten die Alten ſchon einen großen Werth. Aber die Nothwen-
digkeit der ϰυϱιολεξία iſt nicht uͤberall gleich. Sie iſt nothwendig
z. B. bei Schließung einer Übereinkunft, wo es auf die moͤglich
groͤßte Beſtimmtheit im Ausdruck ankommt. Aber mit welchem
Rechte verlangt man die ϰυϱιολεξία von den neuteſt. Schriftſtel-
lern? Einmal geht man davon aus, daß man von dem Un-
eigentlichen doch nur dann Gebrauch mache, wenn der eigentliche
Ausdruck in der Sprache nicht ſowol fehle, als nicht gegenwaͤrtig
ſei. In der Inſpiration der heil. Schrift liege aber die Allgegen-
waͤrtigkeit der Sprache, d. h. die ſtete Gegenwaͤrtigkeit des richti-
gen und eigentlichen Ausdrucks bei den heil. Schriftſtellern, alſo
Unfehlbarkeit in dieſer Hinſicht. Sodann aber ſagt man auch,
die neuteſt. Schriften ſeien gerade eben ſo beſtimmt, eine genaue
Darſtellung der goͤttlichen Wahrheit zu geben, wie ein Contract
beſtimmt ſei, die Verbindlichkeit beider Theile genau anzugeben,
und ſo muͤſſe bei beiden dieſelbe Regel gelten; daher ſeien lauter
eigentliche Ausdruͤcke nothwendig, wenn nicht die Schrift ihrem
Zwecke nur unvollkommen entſprechen ſolle. — Man kann dieß im

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[132/0156] titative, das Verhaͤltniß des Emphatiſchen zu dem Unbedeuten- den, Tautologiſchen, Abundirenden. Von unſerm Principe aus kommen wir auf ſolche Maximen nicht; aber durch ihre Geltung haben ſie ein Recht auf genauere Unterſuchung erlangt. Die erſte Maxime, voͤllig allgemein alle Sprachelemente um- faſſend, materielle und formelle, lautet ſo, daß im N. T. niemals ein uneigentlicher Gebrauch zuzulaſſen ſei, ſo lange es ir- gend moͤglich ſei, die eigentlichen geltend zu machen. Von ſelbſt ſind ausgeſchloſſen ſolche Stellen, wo der uneigentliche Gebrauch beſtimmt indicirt iſt, alſo z. B. in allen augenſcheinlich metapho- riſchen und paraboliſchen Stellen. Es werden die Faͤlle gedacht, wo das Eigentliche und Uneigentliche gleich denkbar iſt. Da ſoll denn jedesmal der eigentliche Gebrauch vorgezogen werden. Es beruht dieß auf der Vorausſezung, daß die neuteſt. Schriftſteller in jedem Falle, wo eigentlicher und uneigentlicher Gebrauch moͤg- lich war, immer den erſten gewaͤhlt haben. Auf dieſe ϰυϱιολεξία legten die Alten ſchon einen großen Werth. Aber die Nothwen- digkeit der ϰυϱιολεξία iſt nicht uͤberall gleich. Sie iſt nothwendig z. B. bei Schließung einer Übereinkunft, wo es auf die moͤglich groͤßte Beſtimmtheit im Ausdruck ankommt. Aber mit welchem Rechte verlangt man die ϰυϱιολεξία von den neuteſt. Schriftſtel- lern? Einmal geht man davon aus, daß man von dem Un- eigentlichen doch nur dann Gebrauch mache, wenn der eigentliche Ausdruck in der Sprache nicht ſowol fehle, als nicht gegenwaͤrtig ſei. In der Inſpiration der heil. Schrift liege aber die Allgegen- waͤrtigkeit der Sprache, d. h. die ſtete Gegenwaͤrtigkeit des richti- gen und eigentlichen Ausdrucks bei den heil. Schriftſtellern, alſo Unfehlbarkeit in dieſer Hinſicht. Sodann aber ſagt man auch, die neuteſt. Schriften ſeien gerade eben ſo beſtimmt, eine genaue Darſtellung der goͤttlichen Wahrheit zu geben, wie ein Contract beſtimmt ſei, die Verbindlichkeit beider Theile genau anzugeben, und ſo muͤſſe bei beiden dieſelbe Regel gelten; daher ſeien lauter eigentliche Ausdruͤcke nothwendig, wenn nicht die Schrift ihrem Zwecke nur unvollkommen entſprechen ſolle. — Man kann dieß im

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/156>, abgerufen am 26.04.2024.