Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweite Vorlesung.
kann gegenwärtig nur noch ein völlig Unwissender läugnen, so sind sie
naturgesetzlich entstanden und es bleibt nur noch die Frage zu beant¬
worten, auf welche Weise, nach welchen Naturgesetzen, kurz wie die
neuen Arten gebildet wurden und wie in späteren Perioden neue ent¬
stehen werden".

Die älteren Experimente von Ehrenberg, Schwann, Schultze
und Anderen, in neuerer Zeit wieder durch die umfassenden Untersu¬
chungen von Pasteur bestätigt, haben bewiesen, daß eine sogenannte
"Generatio originaria, oder aequivoca", das heißt eine Ent¬
stehung specifisch bestimmter Keime ohne Mitwirkung gegebener Orga¬
nismen aus formlosem Stoffe in der Natur nicht vorkommt. -- Da¬
gegen hat sich der alte Harvey'sche (?) Satz: "Alles Lebendige entsteht
aus einem Ei" vollkommen bewährt und nur noch physiologisch-be¬
stimmter und schärfer dahin aussprechen lassen, daß alles Lebendige
d. h. Pflanze und Thier aus einer Zelle entsteht. Nach der uns be¬
kannten Naturgesetzlichkeit entsteht unter den auf der Erde gegebenen
Verhältnissen keine Zelle ohne Mitwirkung der schon vorhandenen Zel¬
len eines gegebenen Organismus, von denen sie gebildet wird. Da¬
durch hängen alle lebenden Wesen auf der Erde naturgesetzlich zusammen,
stehen durch die Fortpflanzung (im weitesten Sinne des Wortes) mit
einander in Verbindung und jedes gegebene Individuum stammt noth¬
wendig von einem früheren Individuum ab. -- Eine einzige Zelle, die
unter den ganz besonderen, jedenfalls von den späteren und gegenwär¬
tigen wesentlich abweichenden Bedingungen der paläozoischen Zeit sich
bildete, genügt, um Stammmutter aller späteren Pflanzen und Thiere
geworden zu sein. -- Ein jeder Organismus bildet, wie wir wissen,
auch solche Zellen, die sich gesetzmäßig von demselben trennen und dann
wieder zu einem selbständigen Organismus sich entwickeln können. Wir
nennen diesen Vorgang eben im allgemeinsten Sinne: "Fortpflan¬
zung
". Das aus einer solchen Zelle sich entwickelnde neue Individuum
ist zwar in vielen Merkmalen dem Mutterindividuum, welches ja den
materiellen Stoff hergab und die Bedingungen der ersten Entwicklung

Zweite Vorleſung.
kann gegenwärtig nur noch ein völlig Unwiſſender läugnen, ſo ſind ſie
naturgeſetzlich entſtanden und es bleibt nur noch die Frage zu beant¬
worten, auf welche Weiſe, nach welchen Naturgeſetzen, kurz wie die
neuen Arten gebildet wurden und wie in ſpäteren Perioden neue ent¬
ſtehen werden“.

Die älteren Experimente von Ehrenberg, Schwann, Schultze
und Anderen, in neuerer Zeit wieder durch die umfaſſenden Unterſu¬
chungen von Paſteur beſtätigt, haben bewieſen, daß eine ſogenannte
Generatio originaria, oder aequivoca“, das heißt eine Ent¬
ſtehung ſpecifiſch beſtimmter Keime ohne Mitwirkung gegebener Orga¬
nismen aus formloſem Stoffe in der Natur nicht vorkommt. — Da¬
gegen hat ſich der alte Harvey'ſche (?) Satz: „Alles Lebendige entſteht
aus einem Ei“ vollkommen bewährt und nur noch phyſiologiſch-be¬
ſtimmter und ſchärfer dahin ausſprechen laſſen, daß alles Lebendige
d. h. Pflanze und Thier aus einer Zelle entſteht. Nach der uns be¬
kannten Naturgeſetzlichkeit entſteht unter den auf der Erde gegebenen
Verhältniſſen keine Zelle ohne Mitwirkung der ſchon vorhandenen Zel¬
len eines gegebenen Organismus, von denen ſie gebildet wird. Da¬
durch hängen alle lebenden Weſen auf der Erde naturgeſetzlich zuſammen,
ſtehen durch die Fortpflanzung (im weiteſten Sinne des Wortes) mit
einander in Verbindung und jedes gegebene Individuum ſtammt noth¬
wendig von einem früheren Individuum ab. — Eine einzige Zelle, die
unter den ganz beſonderen, jedenfalls von den ſpäteren und gegenwär¬
tigen weſentlich abweichenden Bedingungen der paläozoiſchen Zeit ſich
bildete, genügt, um Stammmutter aller ſpäteren Pflanzen und Thiere
geworden zu ſein. — Ein jeder Organismus bildet, wie wir wiſſen,
auch ſolche Zellen, die ſich geſetzmäßig von demſelben trennen und dann
wieder zu einem ſelbſtändigen Organismus ſich entwickeln können. Wir
nennen dieſen Vorgang eben im allgemeinſten Sinne: „Fortpflan¬
zung
“. Das aus einer ſolchen Zelle ſich entwickelnde neue Individuum
iſt zwar in vielen Merkmalen dem Mutterindividuum, welches ja den
materiellen Stoff hergab und die Bedingungen der erſten Entwicklung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0038" n="28"/><fw place="top" type="header">Zweite Vorle&#x017F;ung.<lb/></fw>kann gegenwärtig nur noch ein völlig Unwi&#x017F;&#x017F;ender läugnen, &#x017F;o &#x017F;ind &#x017F;ie<lb/>
naturge&#x017F;etzlich ent&#x017F;tanden und es bleibt nur noch die Frage zu beant¬<lb/>
worten, auf welche Wei&#x017F;e, nach welchen Naturge&#x017F;etzen, kurz <hi rendition="#g">wie</hi> die<lb/>
neuen Arten gebildet wurden und wie in &#x017F;päteren Perioden neue ent¬<lb/>
&#x017F;tehen werden&#x201C;.</p><lb/>
        <p>Die älteren Experimente von <hi rendition="#g">Ehrenberg</hi>, <hi rendition="#g">Schwann</hi>, <hi rendition="#g">Schultze</hi><lb/>
und Anderen, in neuerer Zeit wieder durch die umfa&#x017F;&#x017F;enden Unter&#x017F;<lb/>
chungen von <hi rendition="#g">Pa&#x017F;teur</hi> be&#x017F;tätigt, haben bewie&#x017F;en, daß eine &#x017F;ogenannte<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#g">Generatio originaria</hi>, oder <hi rendition="#g">aequivoca</hi>&#x201C;, das heißt eine Ent¬<lb/>
&#x017F;tehung &#x017F;pecifi&#x017F;ch be&#x017F;timmter Keime ohne Mitwirkung gegebener Orga¬<lb/>
nismen aus formlo&#x017F;em Stoffe in der Natur nicht vorkommt. &#x2014; Da¬<lb/>
gegen hat &#x017F;ich der alte <hi rendition="#g">Harvey'&#x017F;che</hi> (?) Satz: &#x201E;Alles Lebendige ent&#x017F;teht<lb/>
aus einem Ei&#x201C; vollkommen bewährt und nur noch phy&#x017F;iologi&#x017F;ch-be¬<lb/>
&#x017F;timmter und &#x017F;chärfer dahin aus&#x017F;prechen la&#x017F;&#x017F;en, daß alles Lebendige<lb/>
d. h. Pflanze und Thier aus einer Zelle ent&#x017F;teht. Nach der uns be¬<lb/>
kannten Naturge&#x017F;etzlichkeit ent&#x017F;teht unter den auf der Erde gegebenen<lb/>
Verhältni&#x017F;&#x017F;en keine Zelle ohne Mitwirkung der &#x017F;chon vorhandenen Zel¬<lb/>
len eines gegebenen Organismus, von denen &#x017F;ie gebildet wird. Da¬<lb/>
durch hängen alle lebenden We&#x017F;en auf der Erde naturge&#x017F;etzlich zu&#x017F;ammen,<lb/>
&#x017F;tehen durch die Fortpflanzung (im weite&#x017F;ten Sinne des Wortes) mit<lb/>
einander in Verbindung und jedes gegebene Individuum &#x017F;tammt noth¬<lb/>
wendig von einem früheren Individuum ab. &#x2014; Eine einzige Zelle, die<lb/>
unter den ganz be&#x017F;onderen, jedenfalls von den &#x017F;päteren und gegenwär¬<lb/>
tigen we&#x017F;entlich abweichenden Bedingungen der paläozoi&#x017F;chen Zeit &#x017F;ich<lb/>
bildete, genügt, um Stammmutter <hi rendition="#g">aller</hi> &#x017F;päteren Pflanzen und Thiere<lb/>
geworden zu &#x017F;ein. &#x2014; Ein jeder Organismus bildet, wie wir wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
auch &#x017F;olche Zellen, die &#x017F;ich ge&#x017F;etzmäßig von dem&#x017F;elben trennen und dann<lb/>
wieder zu einem &#x017F;elb&#x017F;tändigen Organismus &#x017F;ich entwickeln können. Wir<lb/>
nennen die&#x017F;en Vorgang eben im allgemein&#x017F;ten Sinne: &#x201E;<hi rendition="#g">Fortpflan¬<lb/>
zung</hi>&#x201C;. Das aus einer &#x017F;olchen Zelle &#x017F;ich entwickelnde neue Individuum<lb/>
i&#x017F;t zwar in vielen Merkmalen dem Mutterindividuum, welches ja den<lb/>
materiellen Stoff hergab und die Bedingungen der er&#x017F;ten Entwicklung<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0038] Zweite Vorleſung. kann gegenwärtig nur noch ein völlig Unwiſſender läugnen, ſo ſind ſie naturgeſetzlich entſtanden und es bleibt nur noch die Frage zu beant¬ worten, auf welche Weiſe, nach welchen Naturgeſetzen, kurz wie die neuen Arten gebildet wurden und wie in ſpäteren Perioden neue ent¬ ſtehen werden“. Die älteren Experimente von Ehrenberg, Schwann, Schultze und Anderen, in neuerer Zeit wieder durch die umfaſſenden Unterſu¬ chungen von Paſteur beſtätigt, haben bewieſen, daß eine ſogenannte „Generatio originaria, oder aequivoca“, das heißt eine Ent¬ ſtehung ſpecifiſch beſtimmter Keime ohne Mitwirkung gegebener Orga¬ nismen aus formloſem Stoffe in der Natur nicht vorkommt. — Da¬ gegen hat ſich der alte Harvey'ſche (?) Satz: „Alles Lebendige entſteht aus einem Ei“ vollkommen bewährt und nur noch phyſiologiſch-be¬ ſtimmter und ſchärfer dahin ausſprechen laſſen, daß alles Lebendige d. h. Pflanze und Thier aus einer Zelle entſteht. Nach der uns be¬ kannten Naturgeſetzlichkeit entſteht unter den auf der Erde gegebenen Verhältniſſen keine Zelle ohne Mitwirkung der ſchon vorhandenen Zel¬ len eines gegebenen Organismus, von denen ſie gebildet wird. Da¬ durch hängen alle lebenden Weſen auf der Erde naturgeſetzlich zuſammen, ſtehen durch die Fortpflanzung (im weiteſten Sinne des Wortes) mit einander in Verbindung und jedes gegebene Individuum ſtammt noth¬ wendig von einem früheren Individuum ab. — Eine einzige Zelle, die unter den ganz beſonderen, jedenfalls von den ſpäteren und gegenwär¬ tigen weſentlich abweichenden Bedingungen der paläozoiſchen Zeit ſich bildete, genügt, um Stammmutter aller ſpäteren Pflanzen und Thiere geworden zu ſein. — Ein jeder Organismus bildet, wie wir wiſſen, auch ſolche Zellen, die ſich geſetzmäßig von demſelben trennen und dann wieder zu einem ſelbſtändigen Organismus ſich entwickeln können. Wir nennen dieſen Vorgang eben im allgemeinſten Sinne: „Fortpflan¬ zung“. Das aus einer ſolchen Zelle ſich entwickelnde neue Individuum iſt zwar in vielen Merkmalen dem Mutterindividuum, welches ja den materiellen Stoff hergab und die Bedingungen der erſten Entwicklung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/38
Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/38>, abgerufen am 26.04.2024.