Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweyter Abschnitt.
digkeit klein machet, das kann nicht Wahr-
heit seyn; und ich möchte sagen: was die
Würde des Menschen heruntersetzt, das kann
nichts mehr als ein Phantom seyn.

8.

"Der Nervenbau ist besonders
bey gefühlvollen Menschen so
schwach, die Fiber so reitzbar, die
Empfindlichkeit der Organe so groß,
der Uebergang vom Eindruck zum
Gedanken, vom Gedanken zur Lust,
von der Lust zur That so schnell,
so unaufhaltsam, daß auch die
Selbstentleibung in dieser Hinsicht
immer nur Mitleid, und nie Tadel
verdienen kann."

Es war eine Zeit, wo alle Erschei-
nungen in der Körperwelt durch den Aether
(die berühmte materia omnipotens) er-
kläret wurden: und nun ist eine andere, wo
die ersten Ausschweifungen in der Sittenwelt
durch den Nervenbau entschuldigt und ge-
rechtfertiget werden. Ganz gewiß müßte

die

Zweyter Abſchnitt.
digkeit klein machet, das kann nicht Wahr-
heit ſeyn; und ich moͤchte ſagen: was die
Wuͤrde des Menſchen herunterſetzt, das kann
nichts mehr als ein Phantom ſeyn.

8.

Der Nervenbau iſt beſonders
bey gefuͤhlvollen Menſchen ſo
ſchwach, die Fiber ſo reitzbar, die
Empfindlichkeit der Organe ſo groß,
der Uebergang vom Eindruck zum
Gedanken, vom Gedanken zur Luſt,
von der Luſt zur That ſo ſchnell,
ſo unaufhaltſam, daß auch die
Selbſtentleibung in dieſer Hinſicht
immer nur Mitleid, und nie Tadel
verdienen kann.“

Es war eine Zeit, wo alle Erſchei-
nungen in der Koͤrperwelt durch den Aether
(die beruͤhmte materia omnipotens) er-
klaͤret wurden: und nun iſt eine andere, wo
die erſten Ausſchweifungen in der Sittenwelt
durch den Nervenbau entſchuldigt und ge-
rechtfertiget werden. Ganz gewiß muͤßte

die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0126" n="114"/><fw place="top" type="header">Zweyter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/><hi rendition="#fr">digkeit</hi> klein machet, das kann nicht Wahr-<lb/>
heit &#x017F;eyn; und ich mo&#x0364;chte &#x017F;agen: was die<lb/>
Wu&#x0364;rde des Men&#x017F;chen herunter&#x017F;etzt, das kann<lb/>
nichts mehr als ein Phantom &#x017F;eyn.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>8.</head><lb/>
          <p> <hi rendition="#fr">&#x201E;<hi rendition="#in">D</hi>er Nervenbau i&#x017F;t be&#x017F;onders<lb/>
bey gefu&#x0364;hlvollen Men&#x017F;chen &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chwach, die Fiber &#x017F;o reitzbar, die<lb/>
Empfindlichkeit der Organe &#x017F;o groß,<lb/>
der Uebergang vom Eindruck zum<lb/>
Gedanken, vom Gedanken zur Lu&#x017F;t,<lb/>
von der Lu&#x017F;t zur That &#x017F;o &#x017F;chnell,<lb/>
&#x017F;o unaufhalt&#x017F;am, daß auch die<lb/>
Selb&#x017F;tentleibung in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht<lb/>
immer nur Mitleid, und nie Tadel<lb/>
verdienen kann.&#x201C;</hi> </p><lb/>
          <p>Es war eine Zeit, wo alle Er&#x017F;chei-<lb/>
nungen in der Ko&#x0364;rperwelt durch den Aether<lb/>
(die beru&#x0364;hmte <hi rendition="#aq">materia omnipotens</hi>) er-<lb/>
kla&#x0364;ret wurden: und nun i&#x017F;t eine andere, wo<lb/>
die er&#x017F;ten Aus&#x017F;chweifungen in der Sittenwelt<lb/>
durch den <hi rendition="#fr">Nervenbau</hi> ent&#x017F;chuldigt und ge-<lb/>
rechtfertiget werden. Ganz gewiß mu&#x0364;ßte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[114/0126] Zweyter Abſchnitt. digkeit klein machet, das kann nicht Wahr- heit ſeyn; und ich moͤchte ſagen: was die Wuͤrde des Menſchen herunterſetzt, das kann nichts mehr als ein Phantom ſeyn. 8. „Der Nervenbau iſt beſonders bey gefuͤhlvollen Menſchen ſo ſchwach, die Fiber ſo reitzbar, die Empfindlichkeit der Organe ſo groß, der Uebergang vom Eindruck zum Gedanken, vom Gedanken zur Luſt, von der Luſt zur That ſo ſchnell, ſo unaufhaltſam, daß auch die Selbſtentleibung in dieſer Hinſicht immer nur Mitleid, und nie Tadel verdienen kann.“ Es war eine Zeit, wo alle Erſchei- nungen in der Koͤrperwelt durch den Aether (die beruͤhmte materia omnipotens) er- klaͤret wurden: und nun iſt eine andere, wo die erſten Ausſchweifungen in der Sittenwelt durch den Nervenbau entſchuldigt und ge- rechtfertiget werden. Ganz gewiß muͤßte die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/126
Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/126>, abgerufen am 22.12.2024.