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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

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heren Jugendleben des Künstlers mit eben jenen moderneren
Tendenzen, deren erste Andeutung uns eben beschäftigt hat.
In dem kräftigen Tone der Färbung des Ganzen, in dem
Antlitz der Jungfrau, in dem Verhältniß der inneren Gesichts-
theile zu dem vollen Umrisse vieler anderen Köpfe erinnert
Manches an jene älteren und ältesten Gemälde Raphaels,
welche ohne Zwang aus dem Vorbilde oder der Anweisung
des Perugino nicht wohl abzuleiten sind. Hingegen entwickel-
ten sich unstreitig die Charaktere der Apostel, besonders aber
die niedlichen Darstellungen im Gradino, welche gegenwärtig
in eigenen Rahmen aufgestellt sind, aus Lieblings- oder Ge-
wohnheits-Vorstellungen des Pietro; ist endlich das Bestreben,
den Figuren mehr Schwung, Bewegung und Anmuth zu ge-
ben, als je in den Wünschen des älteren Meisters lag, schon
über die Grenze des Richtigen hinausgeführt. Man beachte
nur den enthusiastischen Wurf des Hauptes im Evangelisten
Johannes. Nach allen diesen Anzeichen ward das Bild, des-
sen vereinzelte Alterthümlichkeiten ich gleich anfangs einge-
räumt habe, später als das Sposalizio, also gegen Ende des
Jahres 1504, oder auch wohl zu Anfang des folgenden
beendigt *).

In dieselbe Zeit fällt denn nothwendig auch der vorer-
wähnte Gekreuzigte. Vasari läßt dieses Bild dem Sposalizio
vorangehn und wiederum bis zur Täuschung dem Perugino
gleichen. Wahrscheinlich folgte er, als er schrieb, erlöschenden

*) Nach den centurie Mss. des Tim. Bottonio, Dominicaners zu
Perugia, soll dieses Bild erst im Jahr 1525 von Raphaels Schülern
vollendet worden seyn; daselbst wird die Altarstaffel einem M. Berto
beygemessen. Von Lazuren und vereinzelten Retouchen verstanden, mag
es mit dieser Angabe seine Richtigkeit haben.

heren Jugendleben des Kuͤnſtlers mit eben jenen moderneren
Tendenzen, deren erſte Andeutung uns eben beſchaͤftigt hat.
In dem kraͤftigen Tone der Faͤrbung des Ganzen, in dem
Antlitz der Jungfrau, in dem Verhaͤltniß der inneren Geſichts-
theile zu dem vollen Umriſſe vieler anderen Koͤpfe erinnert
Manches an jene aͤlteren und aͤlteſten Gemaͤlde Raphaels,
welche ohne Zwang aus dem Vorbilde oder der Anweiſung
des Perugino nicht wohl abzuleiten ſind. Hingegen entwickel-
ten ſich unſtreitig die Charaktere der Apoſtel, beſonders aber
die niedlichen Darſtellungen im Gradino, welche gegenwaͤrtig
in eigenen Rahmen aufgeſtellt ſind, aus Lieblings- oder Ge-
wohnheits-Vorſtellungen des Pietro; iſt endlich das Beſtreben,
den Figuren mehr Schwung, Bewegung und Anmuth zu ge-
ben, als je in den Wuͤnſchen des aͤlteren Meiſters lag, ſchon
uͤber die Grenze des Richtigen hinausgefuͤhrt. Man beachte
nur den enthuſiaſtiſchen Wurf des Hauptes im Evangeliſten
Johannes. Nach allen dieſen Anzeichen ward das Bild, deſ-
ſen vereinzelte Alterthuͤmlichkeiten ich gleich anfangs einge-
raͤumt habe, ſpaͤter als das Spoſalizio, alſo gegen Ende des
Jahres 1504, oder auch wohl zu Anfang des folgenden
beendigt *).

In dieſelbe Zeit faͤllt denn nothwendig auch der vorer-
waͤhnte Gekreuzigte. Vaſari laͤßt dieſes Bild dem Spoſalizio
vorangehn und wiederum bis zur Taͤuſchung dem Perugino
gleichen. Wahrſcheinlich folgte er, als er ſchrieb, erloͤſchenden

*) Nach den centurie Mss. des Tim. Bottonio, Dominicaners zu
Perugia, ſoll dieſes Bild erſt im Jahr 1525 von Raphaels Schülern
vollendet worden ſeyn; daſelbſt wird die Altarſtaffel einem M. Berto
beygemeſſen. Von Lazuren und vereinzelten Retouchen verſtanden, mag
es mit dieſer Angabe ſeine Richtigkeit haben.
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[52/0074] heren Jugendleben des Kuͤnſtlers mit eben jenen moderneren Tendenzen, deren erſte Andeutung uns eben beſchaͤftigt hat. In dem kraͤftigen Tone der Faͤrbung des Ganzen, in dem Antlitz der Jungfrau, in dem Verhaͤltniß der inneren Geſichts- theile zu dem vollen Umriſſe vieler anderen Koͤpfe erinnert Manches an jene aͤlteren und aͤlteſten Gemaͤlde Raphaels, welche ohne Zwang aus dem Vorbilde oder der Anweiſung des Perugino nicht wohl abzuleiten ſind. Hingegen entwickel- ten ſich unſtreitig die Charaktere der Apoſtel, beſonders aber die niedlichen Darſtellungen im Gradino, welche gegenwaͤrtig in eigenen Rahmen aufgeſtellt ſind, aus Lieblings- oder Ge- wohnheits-Vorſtellungen des Pietro; iſt endlich das Beſtreben, den Figuren mehr Schwung, Bewegung und Anmuth zu ge- ben, als je in den Wuͤnſchen des aͤlteren Meiſters lag, ſchon uͤber die Grenze des Richtigen hinausgefuͤhrt. Man beachte nur den enthuſiaſtiſchen Wurf des Hauptes im Evangeliſten Johannes. Nach allen dieſen Anzeichen ward das Bild, deſ- ſen vereinzelte Alterthuͤmlichkeiten ich gleich anfangs einge- raͤumt habe, ſpaͤter als das Spoſalizio, alſo gegen Ende des Jahres 1504, oder auch wohl zu Anfang des folgenden beendigt *). In dieſelbe Zeit faͤllt denn nothwendig auch der vorer- waͤhnte Gekreuzigte. Vaſari laͤßt dieſes Bild dem Spoſalizio vorangehn und wiederum bis zur Taͤuſchung dem Perugino gleichen. Wahrſcheinlich folgte er, als er ſchrieb, erloͤſchenden *) Nach den centurie Mss. des Tim. Bottonio, Dominicaners zu Perugia, ſoll dieſes Bild erſt im Jahr 1525 von Raphaels Schülern vollendet worden ſeyn; daſelbſt wird die Altarſtaffel einem M. Berto beygemeſſen. Von Lazuren und vereinzelten Retouchen verſtanden, mag es mit dieſer Angabe ſeine Richtigkeit haben.

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/74>, abgerufen am 26.04.2024.