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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

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verstanden war; dieses brachte in die Behandlung der Aufga-
ben sowohl Ernstlichkeit, als Wechsel. Der ächte Geschmack
findet daher in den Kunstwerken dieser Zeit und Art mehr
Befriedigung, als in den Dingen, welche die eitle, selbstge-
fällige Bildung späterer Jahre nach übereinkömmlichen ästhe-
tischen Grundsätzen für ein meist nur eingebildetes Bedürfniß
hervorgebracht hat. Ganz wie im Leben, wie in der Natur,
ist in der Kunst nichts schön, was nur der Schönheit willen
schön seyn will. Die nöthige Wesenheit ertheilt aber dem
Kunstwerke dessen unmittelbarer Zusammenhang mit dem ge-
sammten Leben der Zeit, aus deren ächtem, tiefgefühltem Ver-
langen und Bedürfen dasselbe hervorgegangen ist.

Unter den späteren Bildern Raphaels zeugt keines stärker
von unmittelbarer Theilnahme des Künstlers. Bisher ward
keine Handzeichnung zu diesem Bilde bekannt, zeigte sich kein
Vorstudium desselben, noch selbst ein altes Kupferstich, welches
bezeugte, daß solche vorzeiten einmal vorhanden gewesen.
Eben wie diese Abwesenheit von Vorarbeiten, welche den Ge-
hülfen zur Richtschnur hätten dienen können, so lehrt auch
der Vortrag der Malerey, daß jenes große Werk ein unmit-
telbarer Wurf des Geistes sey. Vielleicht gab es davon nie
einen anderen Entwurf, als die Röthelvorzeichnung, welche vor
der letzten Restauration durch Abblätterungen der Farbe war
sichtbar geworden. Leider sind die geistvollsten Züge der Hand
des größten Meisters durch die letzte angebliche Wiederherstel-
lung an vielen Stellen bewölkt worden.

Ueber diese hat die öffentliche Meinung längst sich ge-
staltet. Lange bevor ich die Madonna di S. Sisto nach vie-
len Jahren wiedergesehn, wußte man in Dresden, wußte man
in der Welt, daß Palmaroli bey der Reinigung sich des Mes-

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verſtanden war; dieſes brachte in die Behandlung der Aufga-
ben ſowohl Ernſtlichkeit, als Wechſel. Der aͤchte Geſchmack
findet daher in den Kunſtwerken dieſer Zeit und Art mehr
Befriedigung, als in den Dingen, welche die eitle, ſelbſtge-
faͤllige Bildung ſpaͤterer Jahre nach uͤbereinkoͤmmlichen aͤſthe-
tiſchen Grundſaͤtzen fuͤr ein meiſt nur eingebildetes Beduͤrfniß
hervorgebracht hat. Ganz wie im Leben, wie in der Natur,
iſt in der Kunſt nichts ſchoͤn, was nur der Schoͤnheit willen
ſchoͤn ſeyn will. Die noͤthige Weſenheit ertheilt aber dem
Kunſtwerke deſſen unmittelbarer Zuſammenhang mit dem ge-
ſammten Leben der Zeit, aus deren aͤchtem, tiefgefuͤhltem Ver-
langen und Beduͤrfen daſſelbe hervorgegangen iſt.

Unter den ſpaͤteren Bildern Raphaels zeugt keines ſtaͤrker
von unmittelbarer Theilnahme des Kuͤnſtlers. Bisher ward
keine Handzeichnung zu dieſem Bilde bekannt, zeigte ſich kein
Vorſtudium deſſelben, noch ſelbſt ein altes Kupferſtich, welches
bezeugte, daß ſolche vorzeiten einmal vorhanden geweſen.
Eben wie dieſe Abweſenheit von Vorarbeiten, welche den Ge-
huͤlfen zur Richtſchnur haͤtten dienen koͤnnen, ſo lehrt auch
der Vortrag der Malerey, daß jenes große Werk ein unmit-
telbarer Wurf des Geiſtes ſey. Vielleicht gab es davon nie
einen anderen Entwurf, als die Roͤthelvorzeichnung, welche vor
der letzten Reſtauration durch Abblaͤtterungen der Farbe war
ſichtbar geworden. Leider ſind die geiſtvollſten Zuͤge der Hand
des groͤßten Meiſters durch die letzte angebliche Wiederherſtel-
lung an vielen Stellen bewoͤlkt worden.

Ueber dieſe hat die oͤffentliche Meinung laͤngſt ſich ge-
ſtaltet. Lange bevor ich die Madonna di S. Siſto nach vie-
len Jahren wiedergeſehn, wußte man in Dresden, wußte man
in der Welt, daß Palmaroli bey der Reinigung ſich des Meſ-

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[131/0153] verſtanden war; dieſes brachte in die Behandlung der Aufga- ben ſowohl Ernſtlichkeit, als Wechſel. Der aͤchte Geſchmack findet daher in den Kunſtwerken dieſer Zeit und Art mehr Befriedigung, als in den Dingen, welche die eitle, ſelbſtge- faͤllige Bildung ſpaͤterer Jahre nach uͤbereinkoͤmmlichen aͤſthe- tiſchen Grundſaͤtzen fuͤr ein meiſt nur eingebildetes Beduͤrfniß hervorgebracht hat. Ganz wie im Leben, wie in der Natur, iſt in der Kunſt nichts ſchoͤn, was nur der Schoͤnheit willen ſchoͤn ſeyn will. Die noͤthige Weſenheit ertheilt aber dem Kunſtwerke deſſen unmittelbarer Zuſammenhang mit dem ge- ſammten Leben der Zeit, aus deren aͤchtem, tiefgefuͤhltem Ver- langen und Beduͤrfen daſſelbe hervorgegangen iſt. Unter den ſpaͤteren Bildern Raphaels zeugt keines ſtaͤrker von unmittelbarer Theilnahme des Kuͤnſtlers. Bisher ward keine Handzeichnung zu dieſem Bilde bekannt, zeigte ſich kein Vorſtudium deſſelben, noch ſelbſt ein altes Kupferſtich, welches bezeugte, daß ſolche vorzeiten einmal vorhanden geweſen. Eben wie dieſe Abweſenheit von Vorarbeiten, welche den Ge- huͤlfen zur Richtſchnur haͤtten dienen koͤnnen, ſo lehrt auch der Vortrag der Malerey, daß jenes große Werk ein unmit- telbarer Wurf des Geiſtes ſey. Vielleicht gab es davon nie einen anderen Entwurf, als die Roͤthelvorzeichnung, welche vor der letzten Reſtauration durch Abblaͤtterungen der Farbe war ſichtbar geworden. Leider ſind die geiſtvollſten Zuͤge der Hand des groͤßten Meiſters durch die letzte angebliche Wiederherſtel- lung an vielen Stellen bewoͤlkt worden. Ueber dieſe hat die oͤffentliche Meinung laͤngſt ſich ge- ſtaltet. Lange bevor ich die Madonna di S. Siſto nach vie- len Jahren wiedergeſehn, wußte man in Dresden, wußte man in der Welt, daß Palmaroli bey der Reinigung ſich des Meſ- 9 *

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/153>, abgerufen am 27.04.2024.