Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839.68. Ich sprach am Abend, als ich meinen Stock begoß: Sag' an, warum sich heut nicht diese Blüt' erschloß? Geröthet hat ihr Mund der Sonne Kuß empfangen, Ihr Busen schwoll; warum ist sie nicht aufgegangen? Da wiegte sanft der Stock sein Haupt im Abendwinde, Und sprach: Ich hab' es selbst gerathen meinem Kinde. Sie wäre heut nur unvollkommen aufgeblüht, Denn viele schloß ich auf, und meine Kraft ist müd. Wir wollen sammeln ihr im Schlummer frischen Duft, Und morgen würzen soll ihr Hauch die Morgenluft. So sprach der Strauch; ich gieng und hielt in mir zum Glück Ein halberschlossnes Lied auf morgen auch zurück. 68. Ich ſprach am Abend, als ich meinen Stock begoß: Sag' an, warum ſich heut nicht dieſe Bluͤt' erſchloß? Geroͤthet hat ihr Mund der Sonne Kuß empfangen, Ihr Buſen ſchwoll; warum iſt ſie nicht aufgegangen? Da wiegte ſanft der Stock ſein Haupt im Abendwinde, Und ſprach: Ich hab' es ſelbſt gerathen meinem Kinde. Sie waͤre heut nur unvollkommen aufgebluͤht, Denn viele ſchloß ich auf, und meine Kraft iſt muͤd. Wir wollen ſammeln ihr im Schlummer friſchen Duft, Und morgen wuͤrzen ſoll ihr Hauch die Morgenluft. So ſprach der Strauch; ich gieng und hielt in mir zum Gluͤck Ein halberſchloſſnes Lied auf morgen auch zuruͤck. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0079" n="69"/> <div n="2"> <head>68.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Ich ſprach am Abend, als ich meinen Stock begoß:</l><lb/> <l>Sag' an, warum ſich heut nicht dieſe Bluͤt' erſchloß?</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Geroͤthet hat ihr Mund der Sonne Kuß empfangen,</l><lb/> <l>Ihr Buſen ſchwoll; warum iſt ſie nicht aufgegangen?</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Da wiegte ſanft der Stock ſein Haupt im Abendwinde,</l><lb/> <l>Und ſprach: Ich hab' es ſelbſt gerathen meinem Kinde.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Sie waͤre heut nur unvollkommen aufgebluͤht,</l><lb/> <l>Denn viele ſchloß ich auf, und meine Kraft iſt muͤd.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Wir wollen ſammeln ihr im Schlummer friſchen Duft,</l><lb/> <l>Und morgen wuͤrzen ſoll ihr Hauch die Morgenluft.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>So ſprach der Strauch; ich gieng und hielt in mir zum Gluͤck</l><lb/> <l>Ein halberſchloſſnes Lied auf morgen auch zuruͤck.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [69/0079]
68.
Ich ſprach am Abend, als ich meinen Stock begoß:
Sag' an, warum ſich heut nicht dieſe Bluͤt' erſchloß?
Geroͤthet hat ihr Mund der Sonne Kuß empfangen,
Ihr Buſen ſchwoll; warum iſt ſie nicht aufgegangen?
Da wiegte ſanft der Stock ſein Haupt im Abendwinde,
Und ſprach: Ich hab' es ſelbſt gerathen meinem Kinde.
Sie waͤre heut nur unvollkommen aufgebluͤht,
Denn viele ſchloß ich auf, und meine Kraft iſt muͤd.
Wir wollen ſammeln ihr im Schlummer friſchen Duft,
Und morgen wuͤrzen ſoll ihr Hauch die Morgenluft.
So ſprach der Strauch; ich gieng und hielt in mir zum Gluͤck
Ein halberſchloſſnes Lied auf morgen auch zuruͤck.
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Zitationshilfe: | Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane05_1839/79>, abgerufen am 22.02.2025. |