Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839.25. Hoch im Gebirge lag ein stiller See, und gab Nur einen schmalen Bach dem Fluß im Thal hinab. Er hielt die Spalten eng, daraus sein Abfluß quoll, Und weise Mäßigkeit erhielt ihn immer voll. Da rief zum See hinauf der Strom mit lautem Grollen: Warum nicht reicheren Tribut willst du mir zollen? Anstatt in träger Ruh auf deinem Grund zu stocken, Stürz dich in mich herab, und laß dein Bette trocken! Der See dagegen sprach: O Strom, du bist so reich; Soll alles Wasser denn im Thale seyn zugleich? Mit deinen Schätzen magst du rasch und breit hinfließen; Laß eines Spiegels auch die Einsamkeit genießen. Du tränkest Roß und Rind, ich tränke Hirsch und Hind; Und meine Wogen lind regt Früh- und Abendwind. Ich würde, folgt' ich dir, trüb werden wie du bist, Da hier mein tiefes Blau der Neid des Himmels ist. 25. Hoch im Gebirge lag ein ſtiller See, und gab Nur einen ſchmalen Bach dem Fluß im Thal hinab. Er hielt die Spalten eng, daraus ſein Abfluß quoll, Und weiſe Maͤßigkeit erhielt ihn immer voll. Da rief zum See hinauf der Strom mit lautem Grollen: Warum nicht reicheren Tribut willſt du mir zollen? Anſtatt in traͤger Ruh auf deinem Grund zu ſtocken, Stuͤrz dich in mich herab, und laß dein Bette trocken! Der See dagegen ſprach: O Strom, du biſt ſo reich; Soll alles Waſſer denn im Thale ſeyn zugleich? Mit deinen Schaͤtzen magſt du raſch und breit hinfließen; Laß eines Spiegels auch die Einſamkeit genießen. Du traͤnkeſt Roß und Rind, ich traͤnke Hirſch und Hind; Und meine Wogen lind regt Fruͤh- und Abendwind. Ich wuͤrde, folgt' ich dir, truͤb werden wie du biſt, Da hier mein tiefes Blau der Neid des Himmels iſt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0335" n="325"/> <div n="2"> <head>25.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Hoch im Gebirge lag ein ſtiller See, und gab</l><lb/> <l>Nur einen ſchmalen Bach dem Fluß im Thal hinab.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Er hielt die Spalten eng, daraus ſein Abfluß quoll,</l><lb/> <l>Und weiſe Maͤßigkeit erhielt ihn immer voll.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Da rief zum See hinauf der Strom mit lautem Grollen:</l><lb/> <l>Warum nicht reicheren Tribut willſt du mir zollen?</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Anſtatt in traͤger Ruh auf deinem Grund zu ſtocken,</l><lb/> <l>Stuͤrz dich in mich herab, und laß dein Bette trocken!</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Der See dagegen ſprach: O Strom, du biſt ſo reich;</l><lb/> <l>Soll alles Waſſer denn im Thale ſeyn zugleich?</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Mit deinen Schaͤtzen magſt du raſch und breit hinfließen;</l><lb/> <l>Laß eines Spiegels auch die Einſamkeit genießen.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Du traͤnkeſt Roß und Rind, ich traͤnke Hirſch und Hind;</l><lb/> <l>Und meine Wogen lind regt Fruͤh- und Abendwind.</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>Ich wuͤrde, folgt' ich dir, truͤb werden wie du biſt,</l><lb/> <l>Da hier mein tiefes Blau der Neid des Himmels iſt.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [325/0335]
25.
Hoch im Gebirge lag ein ſtiller See, und gab
Nur einen ſchmalen Bach dem Fluß im Thal hinab.
Er hielt die Spalten eng, daraus ſein Abfluß quoll,
Und weiſe Maͤßigkeit erhielt ihn immer voll.
Da rief zum See hinauf der Strom mit lautem Grollen:
Warum nicht reicheren Tribut willſt du mir zollen?
Anſtatt in traͤger Ruh auf deinem Grund zu ſtocken,
Stuͤrz dich in mich herab, und laß dein Bette trocken!
Der See dagegen ſprach: O Strom, du biſt ſo reich;
Soll alles Waſſer denn im Thale ſeyn zugleich?
Mit deinen Schaͤtzen magſt du raſch und breit hinfließen;
Laß eines Spiegels auch die Einſamkeit genießen.
Du traͤnkeſt Roß und Rind, ich traͤnke Hirſch und Hind;
Und meine Wogen lind regt Fruͤh- und Abendwind.
Ich wuͤrde, folgt' ich dir, truͤb werden wie du biſt,
Da hier mein tiefes Blau der Neid des Himmels iſt.
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